Literatur im Salon: Lesung mit Odile Kennel
Hoch über den Dächern von Degerloch fand ich mich zusammen mit ca. 25 anderen Gästen ein in einer Privatwohnung, in der die deutsch – französische Schriftstellerin Odile Kennel ihren 2017 erschienen Roman „Mit Blick auf See“ vorstellte. Die Autorin, Lyrikerin und Übersetzerin war extra für diese Lesung aus Berlin angereist.
Im Wohnzimmer standen Stühle, Getränke und Knabbereien für die Gäste bereit, von der Dachterasse konnte man über die Dächer der Nachbarhäuser einen Blick auf die Alb erhaschen. Vor einem stilvollen Sekretär sollten Autorin und Moderatorin Astrid Braun Platz nehmen.
Für mich war es erste Salonlesung , aber das Schriftstellerhaus führt diese Lesereihe dieses Jahr bereits zum 3.Mal durch. Wer sich eine Karte für die Lesungen kauft, weiß vorher nicht, welche Privatpersonen ihre Räume für die Literatur öffnen werden – das erfährt man erst, wenn man die Eintrittskarte in Händen hält. Ich finde das eine schöne Idee, denn eine solche Lesung in einem intimen Ambiente wirkt ganz anders, viel persönlicher und lockerer. Als Zuhörerin war ich der Autorin deutlich näher und das ging offensichtlich auch den anderen Gästen so: Während bei Fragerunden im Anschluß an die Lesung sonst oft eine peinliche Stille ensteht, entwickelte sich hier das Gespräch ganz selbstverständlich und manche(r) wagte gegen Ende sogar, die Moderatorin zu unterbrechen, um noch eine Frage loszuwerden.
Die diesjährigen Lesungen stehen unter dem Motto „Sie schreibt…..“ und docken thematisch an den vom Land Baden-Württemberg veranstalteten Literatursommer 2018 an, der sich das Thema „Frauen in der Literatur“ gewählt hat. Odile Kennel war 2014 Stipendiatin im Schriftstellerhaus und stellte am Ende ihres damaligen Aufenthalts in Stuttgart das erste Kapitel von „Mit Blick auf See“ vor. So war es nur folgerichtig, daß sie nun aus dem fertigen Produkt las.
Der Roman „Mit Blick auf See“
Béatrice hat sich in der Nähe von Berlin eine Mühle gekauft und ist gerade dabei, sich einzurichten, als ein junger Mann vor der Tür steht, der behauptet, sie sei Mitte der 70er Jahre mit seiner Mutter befreundet und oft in dieser Mühle, die seiner Großmutter gehört hat, zu Gast gewesen. Er möchte herausfinden, wohin seine Mutter Anfang 1977 für drei Jahre verschwunden ist. Béatrice kann sich weder an die Mutter, noch an die Großmutter erinnern, auch daß sie schon einmal in der Mühle gewesen sein soll, kann sie nicht glauben. Aber Alexander, so heißt der junge Mann, kennt ihren Mädchennamen und er hat Bilder. Béatrice wird immer unsicherer, als Erinnerungen auftauchen, die sie nicht einordnen kann. Sie versucht, sich in ihrem neuen Zuhause einzurichten und arbeitet gleichzeitig an einem Buchprojekt über den Deutschen Herbst. Diese Zeit hat sie selbst nur aus der Distanz erlebt, weil sie sie als als Aupair – Mädchen in England verbrachte, aber die Erinnerungsfetzen lassen sie unsicher werden, ob sie wirklich von dieser politisch aufgeheizten Zeit so wenig mitbekommen hat.
Ein Gang durch Erinnerungsräume
Im anschließenden Gespräch erzählte Odile Kennel, daß sie bereits 1986 zum ersten Mal darüber nachdachte, einen Roman über den Deutschen Herbst zu schreiben. Bei einem Besuch in ihrer badischen Heimat begegnte sie der Landschaft und der Sprache wieder und es tauchten auch Erinnerungen an die 70er Jahren auf. Sie selbst war 1977 erst 10 Jahre alt, sie hat also keine konkreten Erinnerungen, sondern es sind eher Stimmungserinnerungen. So geht es auch den Interviewpartner*innen von Béatrice: Sie waren entweder zu jung oder sie lebten zum damaligen Zeitpunkt in der DDR und hatten so, außer vereinzelten Erinnerungen an die Stimmung der damaligen Zeit, wenig konkreten Bezug zur damaligen Zeit. Das Thema interessierte sie aber auch deshalb, weil es das erste medial begleitete zeitgeschichtliche Ereignis aus der Geschichte der Bundesrepublik war: Das Fernsehen brachte die Bilder und Geschehnisse direkt in die deutschen Wohnzimmer. Viele von uns erinnern sich deshalb vor allem auch an Bilder – Fahndungsfotos, Plakate, Zeitungsbilder.
Aber es geht nicht nur um den Deutschen Herbst, der für das kollektive Gedächtnis steht, sondern auch um die individuellen Erinnerungen, die schon auch einmal von kollektiven Erinnnerungen beeinflusst oder überdeckt werden können. Der Roman ist angelegt als ein Gang durch das Haus, in das Béatrice einzieht und die einzelnen Kapitel sind überschrieben mit den Namen der Räume. Räume können auch Erinnerungen wecken merkte eine Zuhörerin an und so ist dieser literarische Rahmen klug gewählt.
Ein Romanende, das manche ratlos zurücklässt
Bei der lebhaften, manchmal vielleicht auch etwas zu schnellen Lesung, gefiel mir besonders gut die Sprache, hier merkte man, daß Odile Kennel auch Lyrik schreibt. Schon auf den ersten Seiten wird man in die Handlung hineingezogen. Ich hatte das Buch schon nach seinem Erscheinen im Sommer 2017 gelesen, aber, das gebe ich ganz ehrlich zu, im Laufe des Lesens gewisse Schwierigkeiten damit. Die Autorin baut eine Spannung auf, die sich für mich am Ende nicht auflöste – ich fühlte mich etwas alleingelassen mit der Geschichte. Das ging auch anderen so, denn ein Zuhörer fragte auch explizit, warum der Schluß so ist wie er ist. „Das Leben bietet eben nicht immer eine Lösung“ war die Antwort und eine andere Zuhörerin wandte ein, dies sei ja schließlich auch kein Krimi, in dem eine Auflösung Pflicht ist. Das stimmt natürlich – die Krimileserin in mir hat sie halt erwartet und sich gewünscht. Odile Kennel merkte auch noch an, daß es auch bei ihrem ersten Roman „Was Ida sagt“ (der mir übrigens sehr gut gefallen hat) schon Stimmen gab, die sich mit dem Ende schwer taten. Das ging mir bei diesem Buch gar nicht so, denn es war für mich zwar ein hartes, aber konsequentes Ende.
Die Stuttgarter Friseure und ein Brief an die Landeshauptstadt Stuttgart
Zum Abschluß dieses sehr anregenden und unterhaltsamen Abends las Odile Kennel noch zwei ihrer Gedichte. Eines davon war während ihres Stipendiums im Schriftstellerhaus entstanden: Jeden Montag fanden im Nachbarhaus Fortbildungen für Friseure statt, die sich in ihren Kaffee- und Raucherpausen im Hof unter dem Zimmer der Stpiendiatin lautstark über berufliche Fragen austauschten. Ihren Abschiedsbrief, den sie außerdem an die Landeshauptstadt geschrieben hat, in der sie sich sehr wohl gefühlt hat, bekamen wir leider nicht zu hören – er lag im Hotel. Und eine Antwort auf ihn haben weder Odile Kennel noch das Schriftstellerhaus je erhalten.
Es war schon weit nach 22 Uhr, als ich wieder in mein Auto stieg – sehr zufrieden mit dem Erlebten und dem Vorsatz, vielleicht doch noch einmal in das vorgestellte Buch reinzulesen. Und dieses Mal nicht einer Auflösung entgegenzufiebern, sondern mein Hauptaugenmerk auf die Sprache und viele andere kleine Details zu richten.
Wenn Sie Lust auf das Buch bekommen haben, können Sie es bei buch+musik in Stuttgart-Vaihingen zur Abholung oder als E-Book bestellen
Auf zehnseiten.de liest Odile Kennel aus ihrem Roman „Was Ida sagt“ (Video, 17:31 Min)
Einen Mitschnitt des Abends können Sie hier anhören (Audio, ca 46 Min.)
Text und Bilder: Susanne Martin
vielen Dank für diese freundliche und sehr persönliche Beschreibung und die Fotos! Ich habe mich auch sehr gefreut, als Gastgeberin dabei sein zu dürfen!
Es war wirklich ein anregender Abend!!