Nachdem mir neulich der Roman „Lucky Newman“ von Carl Nixon so gut gefallen hatte, habe ich gleich ein weiteres Buch von ihm gelesen und war gespannt, wie es mir damit ergehen würde. Eines kann ich gleich vorweg schicken – es ist ganz anders!
1980, wenige Tage vor Weihnachten wird am Strand der Nehrung The Spit die Leiche der 17jährigen Lucy gefunden. Sie wurde vergewaltigt und erwürgt und dann in’s Meer geworfen, dessen unerbittliche Strömung sie zurück trieb. Eine Gruppe 15jähriger Jungen, von denen einer die Leiche fand, versucht, den Mörder zu finden, eine Suche, die sie bis in’s Erwachsenenalter begleiten wird.
Wenige Monate nach dem Mord kommt die südafrikanische Rugby-Mannschaft Springboks zu einer Tour durch Neuseeland. Diese Tour spaltet die Gesellschaft: In Christchurch, der Stadt, zu dem New Brighton und The Spit gehören, findet, wie in vielen anderen Städten Neuseelands auch, eine Demonstration statt, die zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Gegendemonstranten führt, etwas, was es in Neuseeland noch nie gab und was die Jungen zu einer Tat anstachelt, die sie nie geplant hatten.
Wie schon oben angemerkt – dieser Roman ist ganz anders als „Lucky Newman“. Im Mittelpunkt steht die Gruppe Jungen, deren Gedanken um den Mord kreisen. Lucy war ein attraktives junges Mädchen, das die Jungen, die, wie der Autor schreibt „überall Sex sahen“, idealisierten: „Lucy stand außerhalb unserer hormonalen Obsessionen.“ Sie wollen herausfinden, was passiert ist und befragen Freunde, Kameraden und Einwohner der Strasse über Lucy, verfolgen Spuren, beschatten junge Männer, von denen sie glauben, sie könnten etwas mit Lucy’s Tod zu tun haben. Und sie legen ein stets wachsenden Archiv an, dessen Lagerraum für sie zu einer Art Schrein wird, zu einer Gedenkstätte an der sie sich immer wieder treffen. Aber alle Spuren verflüchtigen sich. Erst nach 23 Jahren gibt es noch einmal ein Indiz, eine vielversprechende Spur, von der wir aber nicht erfahren werden, ob sie zum Mörder führt.
Mit diesem Teil der Handlung, das muss ich zugeben, hatte ich zuweilen Mühe, weil ich die Besessenheit der Jungen von Lucy und ihrem tragischen Ende über Jahrzehnte hinweg nicht nachvollziehen konnte. Aber darum geht es nicht alleine, denn außerdem erzählt Carl Nixon die Geschichte einer Strasse und ihrer Bewohner*innen, die in einer rauen Natur leben. Meer, Sand und Wind dominieren das Leben dieser Arbeitersiedlung, die an drei Seiten vom Wasser des Pazifik und zweier Flüsse umgeben ist und die, wie es an einer Stelle heißt „nur ein Erdbeben von Chile entfernt“ liegt. Wenn er die Natur, das Meer und den Wind beschreibt, riecht man förmlich die Salzluft und die strengen Gerüche des Wassers im Sommer, hört die Brandung des Meeres und spürt den allgegenwärtigen Sand zwischen den Zehen. Der Mord verändert auch die Atmosphäre im Ort und als dann noch ein kleines Mädchen überfallen wird, bilden die Väter eine Bürgerwehr. In diese sowieso schon angespannte Atmosphäre bringt die geplante Tour der südafrikanischen Rugbymannschaft zusätzliche Unruhe. Die Jungen und ihre Väter sind glühende Anhänger der All Blocks, der einzigen Mannschaft, gegen die die Springboks mehr Spiele verloren als gewonnen haben. Sie verstehen die Demonstranten nicht, denn schließlich ist Sport Sport und Politik Politik. Eine auch hierzulande weit verbreitete Einstellung.
All dies erzählt Carl Nixon in einer bildreichen, dichten Sprache und wählt eine besondere Erzählperspektive: Das „Wir“. Wer hier erzählt erfahren wir als Leser*innen nicht. Ist es ein einzelner Junge, dessen Namen wir nie erfahren, der für alle spricht und über den wir auch sonst nichts lesen oder ist es ein körperloses Wir, das über den Dingen schwebt? Ich habe mir dazu kein Meinung bilden können, fand jedoch die Konsequenz, mit der der Autor diese Haltung durchhält, bewundernswert. Zudem ist das Buch sehr schön gestaltet, die ersten Doppelseiten zeigen farbige Fotografien der Landschaft, in die die Titelangaben integriert sind. Man hält es einfach gern in der Hand.
Bleibt noch die Frage, ob es sich hier eigentlich um einen Krimi handelt. Auf den ersten Blick schon, das fanden offensichtlich auch viele Kritiker, denn das Buch stand bei seinem Erscheinen 2012 auf der Krimibestenliste. Ich habe den Roman jedoch eher als die Geschichte eines Ortes und seiner Menschen gelesen, der mit einem tragischen Ereignis leben muss und die mir zudem einen Einblick in einen kurzen Ausschnitt der Geschichte Neuseelands gewährt hat.
Fazit: Obwohl ich mit manchem in diesem Buch gefremdelt habe, habe ich es gerne gelesen. Sprache und Konstruktion sowie die dichte Atmosphäre haben mir sehr gut gefallen. Lesenswert!
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