Vor einigen Wochen bekam ich ein Paket von einer befreundeten Buchhändlerin, die umzog und Bücher aussortierte. Sie bot auf Facebook an, sie zu verschenken, allerdings durften keine Wünsche ausgesprochen werden. Ich meldete Interesse an – eine Zufallsauswahl, das erschien mir vielversprechend, zumal ich weiß, daß die Kollegin oft Sachen empfiehlt, die mir auch gefallen. Und nun steht hier eine große Wunderkiste voller Bücher, die ich zum größten Teil noch nicht kenne. Nicht brandaktuelle, sondern Titel, die in den letzten Jahren erschienen sind und der Kollegin gefielen. Neulich zog ich das erste Buch heraus aus dieser Kiste und landete gleich einen Volltreffer. Als ich ihr schrieb, wie gut es mir gefällt, schrieb sie zurück: „Absolutes Lieblingsbuch. DAS hab‘ ich Dir tatsächlich mit Absicht geschickt.“
Merken Sie was? Ich drücke mich ein wenig, mit der eigentlichen Rezension zu beginnen. Genau so ging es Carl Nixon, als er darüber nachdachte, wie er seinen Roman beginnen sollte. Und ich mache es mir jetzt ganz einfach und übernehme den Text, den der Weidle Verlag formuliert hat.
„Der dritte Roman von Carl Nixon führt weit in der Zeit zurück: zu einem Maimorgen im Jahr 1919, an dem die Krankenschwester Elizabeth Whitman auf dem Weg zu ihrer Arbeit ist. Ein Wagen hält neben ihr, und der Fahrer überreicht ihr einen Brief, der ihr Leben verändern wird.
Zu der Zeit wohnt sie mit ihrem 4jährigen Sohn Jack äußerst beengt bei ihren Eltern; Jacks Vater, den sie während des Kriegs in London geheiratet hat, wird seit zwei Jahren vermißt. Der Brief enthält das Angebot, einen sehr wohlhabenden Mann zu pflegen, der mit einer Kopfverletzung aus dem Krieg zurückgekehrt ist; sie zögert lange, als sie erkennt, um welche Verletzung es sich handelt: Paul Blackwell hat sein Gedächtnis verloren, weiß nicht, wer oder wo er ist. Langsam, ganz langsam gewinnt sie sein Vertrauen, vor allem dadurch, daß sie ihm Geschichten erzählt. Und sie erzählt ihrem Sohn eine Geschichte, ein Märchen besser: Der Ballonfahrer. Es handelt von einem Mann, der in exotischen Ländern wilde Abenteuer erlebt — und der nicht wiederkehren wird. Durch die Kraft der Erzählung soll ihr Sohn den Verlust vermittelt bekommen, vielleicht ist das für ihn leichter zu ertragen als die harten Fakten.“ (© Weidle Verlag)
Daß mir das Buch sehr gut gefallen hat, habe ich ja oben schon geschrieben. Das liegt vor allem an der Sprache und an der Art, wie Carl Nixon seine Geschichte erzählt. Zu Beginn berichtet er vom Anruf eines Mannes, den er nur MN nennt, dem ein Roman von ihm gut gefallen hat und der ihn fragt, ob er nicht seine Familiengeschichte erzählen wolle. Nixon ist eher reserviert, aber der Satz „Meine Mutter hat sich unsterblich in einen Mann ohne Gedächtnis verliebt.“ berührt ihn und er willigt in ein Treffen ein Das überzeugt ihn vollends davon, daß es hier eine Geschichte gibt, die es wert ist, erzählt zu werden. Dann erleben wir mit, wie er um den richtigen Anfang und die richtige Form ringt. Auch während die Handlung fortschreitet und ganz besonders am Ende des Romans finden sich immer wieder solche Reflexionen – im Grunde genommen ist es eine Geschichte in der Geschichte und ob es MN wirklich gegeben hat, das zu entscheiden bleibt uns Leser*innen überlassen.
Im Mittelpunkt steht Elizabeth Whitman, die bei den Patienten auf Ihrer Station, allesamt schwer verletze Soldaten, äußerst beliebt ist, denn sie sieht in ihnen das, was sie sind und nicht das, was sie einmal waren. Als sie sich bereit erklärt, die Pflege von Paul Blackwell zu übernehmen, erkennt sie, daß das, was er erlebt hat, ihm sein Gedächtnis geraubt haben muss. Sie versteht auch, warum er jetzt darauf beharrt, Lucky Newman zu heißen. Sie begegnet ihm wie ihren anderen Patienten, nüchtern, aber emphatisch und indem sie ihn so nimmt, wie er jetzt ist. Wie sich Elizabeth diesem völlig verstörten, aggressiven Mann behutsam annähert und durch ihre unaufgeregte, aber dennoch verständnisvolle Art langsam sein Vertrauen gewinnt, hat mich sehr berührt. Zwar macht Paul große Fortschritte aber nicht die, die sich seine Ehefrau erhofft, nämlich, daß es Elizabeth gelingt, Paul’s Gedächtnis und damit ihren Ehemann wieder zurückzuholen. Als sie merkt, daß Elizabeth das nicht erreichen wird, sorgt sie dafür, daß Lucky in eine Anstalt für psychisch Kranke eingewiesen wird. Elizabeth jedoch weiß, daß Lucky alles andere als schizophren ist und weil er ihr sehr nahe gekommen ist, nimmt sie einen Anwalt, um dafür zu sorgen, daß die Zwangseinweisung aufgehoben wird. All das erfahren wir aus Elizabeths Perspektive und gelegentlichen Einwürfen des Autors.
Gleichzeitig ist Elizabeth auch eine Mutter, die ihrem Sohn den Vater nahebringen will. Sie weigert sich zu glauben, daß er gefallen ist, so lange sie keine endgültige Bestätigung dafür bekommt. Regelmäßig betrachtet sie mit Jack die wenigen Fotografien, die es von Jim gibt und erzählt ihm von der kurzen Zeit, die sie mit ihm hatte. Sie möchte ihn nicht mit der sehr wahrscheinlichen Tatsache konfrontieren, daß sein Vater tot ist, so lange das nicht ganz gesichert ist und so beginnt sie, ihm eine Geschichte zu erzählen, die von einem Ballonfahrer handelt, der um die Welt reist und zahlreiche Abenteuer zu bestehen hat. Das ist also noch eine weitere Geschichte in der Geschichte, die sehr spannend, märchenhaft und poetisch erzählt wird.
Ganz abgesehen davon ist dies auch ein Roman über den Krieg und was er mit den Menschen macht und ein Roman über die Arroganz der damaligen Zeit, in der man nicht anerkennen wollte, daß die überlebenden Soldaten nicht nur äußere, sondern immer auch tiefe innere Verwundungen erlitten haben.
Fazit: Ein tolles Buch, das mich nicht nur wegen seines Inhaltes, sondern vor allem wegen der Art, wie es erzählt wird, beeindruckt hat – ein wunderbares Lesevergnügen!
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