Dieses Buch geisterte immer wieder durch meine Nachrichtenfeeds und ich war sehr dankbar, daß es mir die Kollegin aus einer anderen Buchhandlung nun ausgeliehen hat.
„Deutsches Haus“ – so heißt das Gasthaus, das die Eltern von Eva Bruhns Anfang der 60er Jahre in Frankfurt betreiben und in der sie mit ihren 3 Kindern leben: Annegret, die Älteste arbeitet als Kinderkrankenschwester, Eva als Dolmetscherin und Stefan, der Nachzügler, geht noch zur Schule. Eva wird an einem Adventssonntag in die Staatsanwaltschaftet beordert, um bei einer Zeugenbefragung aus dem polnischen zu übersetzen. Ausgerechnet an dem Tag, an dem ihr Verehrer Jürgen zum ersten Mal in die Familie kommt und vielleicht bei ihrem Vater um ihre Hand anhalten wird. Eva ist entsetzt über das, was sie übersetzen muss und will nicht glauben, was der Zeuge erzählt. Kurz danach wird sie gebeten, beim ersten Auschwitzprozess zu übersetzen. Ihre Eltern sind strikt dagegen und weigern sich, mit Eva darüber zu sprechen, auch Jürgen möchte nicht, daß sie den Auftrag annimmt. Aber Eva folgt ihrem Gefühl, das ihr sagt, daß sie diese Aufgabe übenehmen muss und in ihr verdichtet sich immer mehr das Gefühl, daß sie mehr mit Auschwitz zu tun hat, als sie weiß.
Eva Bruhns steht im Mittelpunkt dieses Romans und die Geschichte wird weitgehend aus ihrer Perspektive erzählt. Eva hofft, daß Jürgen, ihr Verehrer, sie heiraten wird, obwohl er aus einer ganz andern Gesellschaftssschicht kommt: Er ist der Sohn eines großen und erfolgreichen Versandhändlers und hat von seinem schwer kranken Vater die Leitung des Unternehmens übernommen. Er liebt Eva, verhält sich aber dennoch seltsam distanziert und erwartet von ihr auch, daß sie bei einer Eheschließung ihren Beruf aufgeben und sich seiner Führung unterordnen wird. Eva jedoch fühlt sich als moderne Frau und nimmt gegen den Willen von Jürgen den Auftrag an, die Zeugenaussagen beim Prozess zu übersetzen. Je länger sie im Gerichtssaal dabei ist, desto intensiver wird das Gefühl, daß sie etwas mit Auschwitz zu tun hat, sie erkennt die Ehefrau eines der Angeklagten und immer wieder kommen Erinnerungsfetzen in ihr hoch. Aber weder ihre Eltern, noch ihre Schwester Annegret wollen mir ihr darüber sprechen.
Annegret ist die Ältere der Beiden und eigentlich wäre sie diejenige, die zuerst dran wäre mit dem heiraten. Aber sie geht auf in ihrem Beruf als Kinderkrankenschwester auf der Säuglingssation und kümmert sich vor allem aufopfernd um die Babys, die immer wieder aufgrund der schlechten Hygienebedingungen schwer erkranken. Sie ist nicht attraktiv und hat sich ganz ihrem Beruf verschrieben, aus ihm zieht sie ihre ganze Befriedigung.
Dieser Roman hat mir gut gefallen. Man merkt, daß Annette Hess (u.a. Weissensee, Ku’damm 56) eine versierte Drehbuchautorin ist, denn ich wurde sofort in den Roman hineingezogen. Fast von Beginn an merkt man, wie der Prozess in Eva arbeitet und ahnt, daß sie als kleines Kind in Auschwitz gewesen sein muss – nicht im Lager, sondern in der Siedlung, in der die SS – Offiziere gelebt haben. Eine Kinderzeichnung, die sie bei den Fotoalben findet, eine Nummer, die in den Arm einer Zeugin gebrannt ist, eine schmerzende Narbe an ihrem Kopf reißen langsam den Schleier weg, hinter dem sich ihre frühen Kindheitserinnerungen verbergen. Und im Verlaufe des Buches verliert sie immer mehr ihre Naivität, sie wird sich bewußt, wozu Menschen fähig sein können.
Besonders gelungen fand ich, wie die Autorin die Atmosphäre der frühen 60er Jahre beschreibt: Der kleinbürgerliche Mief des Wirtschaftswunders, die Menschen, die am liebsten gar nicht mitbekommen würden, was da an Ungeheuerlichkeiten verhandelt wird, der immer noch herrschende Antisemitismus und die Vorurteile gegen Fremde und vor allem die beklemmenden Szenen im Gerichtssaal sind sehr authentisch eingefangen. Aus heutiger Sicht ist es kaum zu fassen, mit welcher Ignoranz und Ablehnung die Gesellschaft auf diesen ersten Auschwitzprozess reagierte. In einem Interview erzählt sie, daß sie sich die 400 Stunden Tonmaterial, das es von dem Prozess gibt, angehört hat und das macht besonders die Prozessszenen sehr intensiv und glaubwürdig.
Dafür habe ich manche Schwäche, die der Roman durchaus auch hat, in Kauf genommen: Die Nebenhandlung, in der Eva’s Schwester sich als eine Person entpuppt, die skrupellos ihrem Pflegebedürfnis nachhilft, der junge kanadische Staatsanwalt, der wenig überzeugend für das Trauma der Juden steht, die ohne Schaden den Holcaust überlebt haben und mit ihren Schuldgefühlen nicht zurechtkommen oder der Grund, warum Jürgen sich Eva gegenüber immer wieder sehr distanziert verhält – das alles ist eher plakativ erzählt und teilweise verzichtbar.
Fazit: Dieser Roman konfrontiert seine Protagonist*innen mit der bisher verdrängten Vergangenheit des Holocaust und fängt die Atmosphäre der frühen 60er Jahre sehr überzeugend ein. Trotz einiger Schwächen: Spannende Lektüre mit Tiefgang!
Wenn Sie Lust bekommen haben, das Buch zu lesen oder zu hören, können Sie es bei der Buchhandlung buch+musik in Stuttgart-Vaihingen zur Abholung oder zum Download bestellen
In der Presse wurde der Roman unterschiedlich aufgenommen Einige Meinungen finden Sie hier
Die Rezension des Spiegels können Sie hier nachlesen
Annette Hess war im September 2018 zu Gast bei SWR 1 Leute, Sie können das Interview hier nachhören (Video, 29,34 Min)