„Altes Land“ habe ich als Hörbuch sehr gerne angehört und meine Mitarbeiterin war ebenso hingerissen vom Buch. Als ich mitbekam, daß Dörte Hansen ein neues Buch geschrieben hat, war ich gespannt. Und ich konnte mich gleich doppelt freuen: Ich bekam das Buch zum Geburtstag geschenkt UND gewann das Hörbuch bei Lovely Books. Ich habe mich für’s Anhören entschieden, habe aber nebenbei auch immer wieder in’s Buch reingeschaut.
Im Mittelpunkt steht das Dorf Brinkebüll in der Geestlandschaft Nordfrieslands und sein langsamer Niedergang. War es in den 60er Jahren von der Landwirtschaft und ihren Menschen geprägt, ist es heute ein Dorf der modernen Agrarwirtschaft, in der wenige Großbauern das Land bestellen und die ursprünglichen Strukturen zerstört sind. Landbegradigung, eine alte Dorfallee, die gerodet wird, um die Hauptstrasse durch das Dorf besser befahrbar zu machen, Städter, die die alten leerstehenden Landgebäude beziehen und dort die ländliche Idylle pflegen, die nie eine war, Kinder, die nicht mehr als Bauern arbeiten wollen, sondern studieren – es sind viele einzelne Faktoren, die das Dorf im Laufe der Jahrzehnte grundlegend verändern. Als Leserinnen lernen wir viele Menschen und ihre Gewohnheiten kennen und erleben mit, wie sie mit den Veränderungen umgehen.
Ingwer Feddersen, seine Mutter Marret und seine Großeltern Sönke und Ella sind diejenigen, über die wir am meisten erfahren in diesem Roman. Marret ist zwar Ellas Tochter, aber nicht Sönke’s, Ingwer ist das Produkt einer Nacht, die Marret mit einem der Landvermesser verbracht hat. Marret wird im Dorf nur „Marret Ünnergang“ genannt, denn sie pflegt mit einem zerfledderten Heft mit dem Titel Erwachet! durch’s Dorf zu gehen und die Katastrophe vorherzusagen. Marret ist ein wenig verrückt und ihre Eltern haben gelernt, sie gewähren zu lassen, immerhin hilft sie im elterlichen Gasthof und der Landwirtschaft aus, wenn auch nicht immer so, wie es gebraucht würde. So ist Ingwer auch mehr der Sohn, den Sönke sich immer gewünscht hat, als der Enkel, denn als Mutter ist Marret vollkommen ungeeignet. Ingwer hat das Dorf verlassen und in Kiel studiert, er ist Archäologieprofessor und lebt seit 25 Jahren in einer WG. Als Ella immer verwirrter wird und Sönke immer hinfälliger, nimmt er ein Sabbatical und kehrt zurück nach Brinkebüll, um sich um den Gasthof und seine Großeltern zu kümmern. Es ist eine Zeit, in der erauch entscheiden wird, wie er zukünftig leben will.
Aber wir lernen noch viel mehr Dorfbewohner*inen kennen: Den Dorfschullehrer Steensen, der verhindert, daß das Hünengrab der Landbegradigung zum Opfer fällt und vergeblich versucht, seinen Zöglingen das Pattdeutsch abzugewöhnen. Den Bäcker Boysen, dessen Torten nur von Junggesellen und Gebrechlichen gewürdigt werden und der mit seiner Frau an der jüngsten Tochter Gönke schier verzweifelt. Oder Heiko Ketelsen, den sie de Scheriff nennen und der mit seiner Countryband regelmäßig im Gasthof Feddersen aufspielt. Als Kind wurde er von seinem Vater regelmäßig verprügelt, brachte aber nie auch nur einen Schmerzenslaut über die Lippen und wurde deshalb Jaulnich genannt. Von ihnen und noch einigen mehr erzählt Dörte Hansen und allen gemein ist, daß ihnen die Mittagsstunde heilig ist. Wehe dem Kind, das sie störte! (An diese Stunde, genaugenommen den in dieser Zeit stattfindenden Mittagsschlaf meiner Mutter, habe übrigens auch ich so meine Erinnerungen 😉 )
Das ist ein wunderbares (Hör)Buch, es hat mir fast noch besser gefallen als „Altes Land“, weil es literarisch noch dichter ist. Dörte Hansen gelingt es, ein kunstvolles Handlungsgeflecht zu entwerfen. Sie bewegt sich dabei mühelos zwischen Vergangenheit und Gegenwart und erweckt das Dorf, aber auch ihre Figuren mit viel Wertschätzung, Humor und feiner Ironie, die jedoch nie verletzend wird, zum Leben. Bei manchen Szenen musste ich laut lachen, wenn zum Beispiel Ingwer’s WG beschrieben wird, manchmal war ich aber auch zu Tränen gerührt. Dabei ist das beileibe kein Heimatroman! Brinkebüll könnte überall sein, das Verschwinden alter Dorfkulturen ist nicht nur ein nordfriesisches Phänomen. „Zeitalter fingen an und endeten“ erkennt auch Ingwer Feddersen am Ende, dem Land ist es egal, was Menschen tun, ob sie bleiben oder weiterwandern.
Hannelore Hoger liest diesen Roman kongenial. Ihre rauhe Stimme und ihr norddeutscher Akzent passen perfekt zur Geschichte und die immer wieder eingestreuten kurzen Passagen in Platt verstand ich weitestgehend auch als Süddeutsche. Dabei muss man sich für dieses Hörbuch Zeit nehmen, es genießen und sich auch konzentrieren, damit einem die vielen kleinen Perlen und Andeutungen nicht entgehen.
Fazit: Mein absolutes Highlight in diesem Bücherjahr, ein tolles Hör- und Lesevergnügen! Absolute Empfehlung!
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Eine Hörprobe gibt es hier
Dennis Scheck spricht mit Dörte Hansen über die Mittagsstude, den Dialekt und die Frage ob dies ein Heimatroman ist. Sie können das Gespräch hier anschauen (Video, 9 Minuten)
Eine schöne Besprechung in SWR 2 können Sie hier anhören (6:54)
Auch in der Presse wurde das Buch positiv besprochen