Johann Gabriel Seidl: Die Uhr
Ich trage, wo ich gehe,
Stets eine Uhr bei mir;
Wie viel es geschlagen habe,
Genau seh ich an ihr.
Es ist ein großer Meister,
Der künstlich ihr Werk gefügt,
Wenngleich ihr Gang nicht immer
Dem törichten Wunsche genügt.
Ich wollte, sie wäre rascher
Gegangen an manchem Tag;
Ich wollte, sie hätte manchmal
Verzögert den raschen Schlag.
In meinen Leiden und Freuden,
In Sturm und in der Ruh,
Was immer geschah im Leben,
Sie pochte den Takt dazu.
Sie schlug am Sarge des Vaters,
Sie schlug an des Freundes Bahr,
Sie schlug am Morgen der Liebe,
Sie schlug am Traualtar.
Sie schlug an der Wiege des Kindes,
Sie schlägt, will’s Gott, noch oft,
Wenn bessere Tage kommen,
Wie meine Seele es hofft.
Und ward sie auch einmal träger,
Und drohte zu stocken ihr Lauf,
So zog der Meister immer
Großmütig sie wieder auf.
Doch stände sie einmal stille,
Dann wär’s um sie geschehn,
Kein andrer, als der sie fügte,
Bringt die Zerstörte zum Gehn.
Dann müsst ich zum Meister wandern,
Der wohnt am Ende wohl weit,
Wohl draußen, jenseits der Erde,
Wohl dort in der Ewigkeit!
Dann gäb ich sie ihm zurücke
Mit dankbar kindlichem Flehn:
Sieh, Herr, ich hab nichts verdorben,
Sie blieb von selber stehn.
Diese Ballade von Johann Gabriel Seidl (1804 – 1875) kenne ich vor allem als Lied: Mein Vater sang gut und gerne und besonders gerne Lieder von Carl Loewe (1796 – 1869), der zahlreiche Balldaden vertonte. Bei Familienfesten erklang oft das Lied von der Uhr, das mir besonders gut gefiel und immer noch gefällt. Deshalb hier auch noch der Link zu einer Vertonung mit Dietrich Fischer-Dieskau, einem der ganz großen Lied- und Opernsänger des 20. Jahrhunderts.
Als Bilder habe ich bewußt zwei ganz unterschiedliche Motive ausgewählt: Zum einen das ganz offensichtliche Motiv, eine Taschenuhr, die ich von meinem Vater geerbt habe und eine Sonnenuhr, deren Sinnspruch ein Stück weit das ausdrückt, was Ballade und Lied auch sagen wollen.
Text und Bilder: Susanne Martin