Dieser Roman interessierte mich für meine Jury – Arbeit bei den Stuttgarter Kriminächten und ich bedanke mich beim Fischer Verlag, der mit ein kostenloses Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte.
Finn und Paul sind seit Kindertagen unzertrennlich. Jetzt, kurz vor dem Abitur, ist nichts mehr wie früher. Was die Zukunft für sie bereithält, ist ungewiss und macht Angst, und dann ist da noch Khalil, der plötzlich zwischen ihnen steht. Khalil, der Unberechenbare, den Paul vergöttert, obwohl Finn ihm nicht über den Weg traut.
Nachdem Paul einen schweren Unfall hat, muss er damit klarkommen, dass sein Gedächtnis nicht über einen Tag hinausreicht. In der Reha erhält Paul einen Brief von Khalil, der Entsetzliches befürchten lässt. Paul überzeugt Finn, dass sie Khalil aufhalten müssen. So beginnt ein Roadtrip, der sie von Köln über Berlin, London bis nach Hamburg zum G20-Gipfel führt. Und der alles für immer verändert. (© Fischer Verlag)
Dieser Roman hat es mir nicht ganz leicht gemacht, aber das ist ganz bestimmt auch nicht die Absicht seines Autors Orkun Ertener gewesen, der auch als Drehbuchautor für den Tatort arbeitet und aus dessen Feder die ZDF – Serie „KDD – Kriminaldauerdienst“ stammt. Ich wurde im Laufe des Romans immer wieder damit konfrontiert, daß sich das, was die beiden Hauptfiguren Finn und Paul abwechselnd berichten, als falsch oder ganz anders herausstellte und hatte manchmal das Gefühl, irgendwie keinen Überblick mehr zu haben über die Geschehnisse. Und damit ging es mir bei der Lektüre eigentlich ein wenig so wie Paul, einem der beiden Hauptprotagonisten, der seit einem Unfall jeden Morgen vergessen hat, was zuvor geschehen ist. Nur an die Zeit vor seinem Unfall erinnert er sich noch.
Paul ist in einer Rehaeinrichtung, in der er psychologisch betreut wird und schreibt täglich in ein gelbes Buch, was ihm am Tag widerfahren ist, damit er das dann später nachlesen kann. Finn, sein bester Freund seit Jugendtagen, war dabei bei dem Unfall, der beim alljährlichen Krieg der Abiturienten verschiedener Berliner Schulen passiert ist. Er kommt schlecht zurecht mit dem Zustand von Paul und zieht sich vollkommen von ihm zurück. Aber schon vorher hat etwas nicht gestimmt zwischen den Freunden, denn da war noch Khalil, mit dem Paul die Monate zuvor zusammengesteckt hat und mit dem er viel zu viel getrunken hat. Khalil ist plötzlich verschwunden und als Paul dann einen Brief bekommt und befürchtet, daß Khalil einen terroristischen Anschlag plant, gelingt es ihm, Finn dazu zu überreden, nach Berlin zu fahren, um mit Khalil zu sprechen.
Das birgt natürlich besondere Herausforderungen, denn schließlich vergisst Paul ja regelmäßig, wohin er unterwegs ist und warum. Das muss Finn ihm jeden Tag aufs Neue erkären. Wie Orkun Ertener das erzählt hat mir gut gefallen, denn er wechselt immer wieder die Perspektive – mal lesen wir die Geschichte aus Pauls, dann wieder aus Finns Blickwinkel und dabei erfahren wir Leserinnen stets neues, oft auch widersprüchliches, von den Beiden: Finn hat sich völlig in sich zurückgezogen, nimmt Tabletten und hat weder ein Studium noch eine Ausbildung begonnen. Seine Eltern tolerieren das und geben ihm stets das Gefühl, ihn so anzunehmen, wie er ist – genau das jedoch ist das Problem, denn so fehlt im jede Orientierung. Er fühlt sich mitschuldig an Pauls Unfall und hat deshalb ein schlechtes Gewissen.
Paul ist sich darüber im Klaren, daß Finn ihn monatelang weder besucht noch angerufen hat – steht ja in seinem gelben Buch. Er leidet unter der dominanten Mutter, die natürlich vollkommen ausflippt, als Paul aus der Rehaeinrichtung ausbüxt. Paul leidet extrem darunter, daß seine Mutter seinen Vater immerfort schlecht vor ihm macht und seine deutlich ältere Schwester Gesa schon seit Jahren den Kontakt zur Familie abgebrochen hat. Auch Khalil hat sie nie akzeptiert, obwohl dieser Paul regelmäßig besucht hat, bis er verschwand. Für Paul und Finn ist der Trip nach Berlin, der dann später noch über London nach Hamburg führt, also eine willkommene Gelegenheit, auszubrechen. Und nicht nur Finn, sondern auch wir Lesenden fragen uns irgendwann, ob Khalil diesen Brief eigentlich wirklich selbst geschrieben hat und was es mit seinem Verschwinden auf sich hat.
Ich gebe zu, manchmal hat mich die Lektüre verwirrt und ich bin vielleicht auch nicht immer ganz durchgestiegen, aber da ging es mir eigentlich so wie Paul und Finn, die versuchen, Licht in das Dickicht ihrer Beziehung zu bringen und dabei gleichzeitig immer mehr zu sich selbst zu finden. Und dann ist da ja auch noch die latente Bedrohung, die über allem liegt: Was hat es auf sich mit Khalils Brief? Auch hier führt uns Orkun Ertener immer wieder auf unterschiedliche Fährten: Warum wollen Khalils Eltern Paul seine Handynummer nicht geben? Warum hetzt ein Mitarbeiter von Khalils Vater einen Kampfhund auf Finn, als dieser im Auftrag von Paul versucht, mit Khalils Eltern zu sprechen? Und ist es wirklich so, daß Khalil einen Anschlag plant?
Müsste ich das Buch in meiner Buchhandlung einer bestimmten Warengruppe zuordnen, fiele mir das schwer! Ich würde es auf jeden Fall auf unseren Empfehlungstisch legen, denn er ist interessant und spannend zu lesen. Außerdem stünde er wahrscheinlich sowohl bei den Romanen als auch bei den Kriminalromanen, denn es ist beides: Vor allem ein Coming-of-Age-Roman, aber auch ein Thriller, der die Wirren unserer Zeit aufgreift.
Fazit: Außergewöhnliche, gut geschriebene Lektüre, die sowohl Freund:innen von Krimis ansprechen könnte, die einmal etwas außerhalb des Mainstream lesen möchten als auch Fans von Coming of Age Romanen wie Tschick. Auf jeden Fall: Leseempfehlung!
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