Ich gebe es zu, ich habe mich nicht gleich an dieses Hörbuch herangewagt. „Wer die Nachtigall stört“ ist ein Buch, das mich seit meiner Jugend begleitet und dessen Verfilmung mit Gregory Peck ich mehrere Male gesehen habe.

Aber die Neugier hat dann doch überwogen, sich mit diesem (Hör)buch zu beschäftigen, dessen Manuskript nun nach über 50 Jahren als Buch veröffentlicht wurde. Ob es tatsächlich stimmt, daß es von einer Freundin der hochbetagten Autorin rein zufällig gefunden wurde oder ob das nur eine geschickt ausgedachte Marketingkampagne des amerikanischen Verlages ist, das mag dahin gestellt sein. Tatsache ist, daß die Veröffentlichung in Amerika für großen Wirbel sorgte, da Atticus Finch, das Idealbild des gerechten, vorurteilsfreien Weißen, in diesem Buch entzaubert wird. Daß das Amerika des 21. Jahrhunderts in diesem in den 50er Jahren geschriebenen Buch einen Spiegel vogehalten bekommt, hat sicher vielen nicht geschmeckt!

Worum geht’s? Jean Louise Finch kehrt als junge Frau aus New York City in ihren Heimatort Maycomb in Alabama zurück, um dort Urlaub zu machen. Zu Beginn scheint alles wie immer: Jean Louise trifft sich mit ihrem Fastverlobten Hank, erinnert sich an ihre Kindheit in Maycomb und zankt sich mit ihrer Tante Alexandra. Als sie jedoch mitbekommt, daß Hank und ihr geliebter Vater Atticus zu einer Bürgerversammlung gehen, in der es um die Rechte der Schwarzen geht, schleicht sie sich wie einst als Kind auf die Empore des Gerichtssaals und lauscht. Was sie hört, stellt ihre bisherigen Vorstellungen von ihren Liebsten auf den Kopf…..

Schon die Tatsache, daß Jean Louise in diesem Buch eine Erwachsene ist, macht einen großen Unterschied aus im Vergleich zur Nachtigall. Aber zahlreiche Rückblicke in die Kindheit zeigen deutlich den Stil und die Atmosphäre, die die Nachtigall so charmant machten. Ich musste beim Hören manchmal laut lachen. Sehr spannend wird die Auseinandersetzung zwischen Jean Louise und ihrem Vater Atticus: Der Atticus, den wir im Buch „Wer die Nachtigall stört kennengelernt“ haben ist ein von seiner Tochter verehrter Mensch ohne Fehl und Tadel. Als Erwachsene wird Jean Louise damit konfrontiert, daß Ideale der Wirklichkeit nicht entsprechen und daß auch Atticus ein Mensch ist, der in den gesellschaftlichen Umwälzungen und Vorurteilen seiner Zeit gefangen ist. „Gehe hin, stelle einen Wächter“ ist ein erwachsenes Buch, ein Buch, das uns zeigt, daß es in der realen Welt kein schwarz – weiß, sondern meist ein grau gibt.

Nina Hoss liest dieses Hörbuch grandios. Ihre Stimme spiegelt die unterschiedlichen Stimmungen von Jean Louise wider und der Humor, den dieses Buch an vielen Stellen hat, kommt wunderbar rüber. So ist für ein tolles Hörvergnügen gesorgt!

Ich kann alle die, die noch Skrupel haben, das Buch zu lesen oder zu hören, nur ermuntern – lassen Sie sich auf die Lektüre ein, auch wenn Sie die Figuren danach anders einschätzen. Es sind dieselben, die wir aus der Nachtigall kennen, nur sind sie wie Jean Louise 20 Jahre älter und erwachsen geworden!

Eine lesenswerte Rezension, in der Sie auch etwas über die Hintergründe der späten Veröffentlichung erfahren können Sie hier nachlesen