Dieser Roman stand auf der Leseliste des Literaturkreises auf der Rohrer Höhe und ich bin der Teilnehmerin, die das Buch empfohlen hat, sehr dankbar, denn schon lange habe ich kein so gutes Buch mehr gelesen!

Erzählt wird die Geschichte eines Mädchens, dessen Namen wir nicht erfahren. Ihr Vater bringt sie zu entfernten Verwandten, die auf einer Farm in der Grafschaft Wexford der Republik Irland leben. Die Mutter ist wieder schwanger und das Geld reicht nicht, um alle Mäuler zu stopfen, sollen doch die kinderlosen Verwandten das Mädchen erst einmal behalten. Lieblos abgeschoben ist das Mädchen in eine andere Welt geworfen: Die Eheleute Kinsella begegnen sich mit Respekt, ja, sie schlafen sogar gemeinsam in einem Zimmer! Sie nehmen das Mädchen mit liebevoller Zuwendung auf, es gibt eine Badewanne und genügend zu essen, seine Hilfe im Haushalt wird geschätzt. Es soll keine Geheimnisse geben zwischen den drei Menschen und doch gibt es ein großes, trauriges Geheimnis, das sich im Laufe der Erzählung enthüllt.

Claire Keegan erzählt auf nicht einmal 100 Seiten in einer sehr reduzierten, fast kargen Sprache, die aber eine große Wirkung erzielt. Da gibt es kein Wort zu viel. Angesiedelt ist die Erzählung in den 80er Jahren. Wenige Sätze, in denen sich die Kinsellas über einen Fernsehbericht unterhalten, in dem über den Tod eines weiteren IRA – Häftlings nach einem Hungerstreik berichtet wird, genügen, um die politische Stimmung der damaligen Zeit zu erspüren.

Erzählt aus der Ich-Perspektive erleben wir als Lesende die Geschehnisse aus der Sicht des Kindes. Was das Kind nicht versteht, wird nicht erklärt und so eröffnen sich uns Leser:innen große Freiräume, die wir mit unseren eigenen Gedanken und Vorstellungen füllen können. Gleichzeitig ist klar, dass hier auch eine Erwachsene Gedanken äußert, die ein Kind so nie formulieren könnte: „Ein Teil von mir will, dass mein Vater mich hier lässt, ein anderer Teil, dass er mich wieder zurück bringt zu dem, was ich kenne. Ich stecke in einer Zwickmühle, wo ich weder die sein kann, die ich immer bin, noch zu der werden kann, die ich sein könnte.“  Obwohl eigentlich nicht sehr viel passiert, ist das Buch sehr spannend. Schon in den ersten Sätzen wird die Lieblosigkeit des Elternhauses erkennbar, aus dem das Mädchen kommt, die Gleichgültigkeit, mit der ihr ihre Eltern begegnen. So fällt es ihm auch schwer, die Liebe und Fürsorge anzunehmen, die ihm entgegengebracht wird, denn sie ist sich stets bewusst, dass sie sie bald wieder verlieren wird.

Es gelingt Claire Keegan meisterhaft, die Stimmungen und Gefühle ihrer 3 Hauptfiguren widerzugeben, die Unsicherheit des Mädchens, das sich fast wehrt dagegen, glücklich zu sein und die Zuneigung der Pflegeeltern zu ihr, denen dabei die ganze Zeit bewusst ist, dass sie nur auf Zeit für das Mädchen sorgen dürfen. Und auch das Ende des Buches ist konsequent offen gehalten und lässt Raum für Interpretationen.

Der englische Titel des Buches lautet überigens Foster, was soviel bedeutet wie pflegen, fördern, hegen oder unterstützen. Auch wenn der deutsche Titel gut passt, finde ich die Vielschichtigkeit des englischen Verbs perfekt für dieses Buch.

Fazit: Ein tolles Buch! Nicht nur optisch eine Augenweide, sondern auch sprachlich, erzählerisch und in seiner Reduziertheit beeindruckend. Absolute Leseempfehlung!

Wenn Sie sich einen Eindruck vom Stil des Buches machen möchten, finden Sie hier eine Leseprobe

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