Die Ermordung von Jürgen Ponto, dem Chef der Dresdner Bank, im Sommer 1977 erschütterte die Gesellschaft besonders, denn Susanne Albrecht, eine der Attentäterinnen, war die Patentochter des Bankiers. Und der Vater von Susanne Albrecht, ein Studienfreund von Jürgen Ponto war der Pate von dessen Tochter Corinna. Das Attentat erschütterte nicht nur den Staat, sondern auch die beiden Familien zutiefst – der Kontakt zwischen ihnen brach gänzlich ab.
30 Jahre später nimmt Jürgen Pontos Patentochter Julia Albrecht Kontakt auf zu Corinna Ponto. In Anne Siemens Buch „Für die RAF war er das System, für mich der Vater“ liest sie ein Interview mit ihr und nimmt dieses zum Anlass, Corinna zu schreiben. Die beiden Frauen treffen sich immer wieder und sie schreiben sich gegenseitig ihre Geschichte in Briefen. Aus diesen Briefen besteht das Buch.
Die RAF und ihre Attentate gehören für mich zu meiner Jugend und mich haben immer mehr die Opfer interessiert als die Täter. Für deren Vorgehensweise und Argumentation fehlte mir schon immer jedes Verständnis. Daß man sich erst so spät, mit dem Erscheinen von Anne Siemens Buch eigentlich zum ersten Mal ausführlich mit der Opferperspektive beschäftigt ist etwas, was mir unverständlich ist. So ergeht es auch den beiden Frauen. Wir erfahren in diesen Texten aber auch sehr viel über das „Leben danach“: Wie lebt die Familie des Opfers mit dem Verlust des geliebten Menschen und wie kommt die Familie einer der Beteiligten damit zurecht? Haben die Eltern von Susanne Albrecht es versäumt, die Familie Ponto über die Entwicklung ihrer Tochter zu unterrichten und damit das Attentat überhaupt erst möglich gemacht? Und wie lebt eine „kleine Schwester“ mit dem Verlust ihrer älteren Schwester, von der die Familie viele Jahre nichts hört? Wie fühlt man sich, wenn in einem preisgekrönten Film die Rollen der Terroristen als Charakterrollen angelegt sind, die der Opfer aber als Nebenrollen?
Mich hat das Buch sehr bewegt – gerade weil sich „zwei Pole einer politischen Geschichte, die die Bundesrepublik aufs Äußerste gefordert hat und bis heute einer der größten Herausforderungen ihrer Geschichte darstellt“ treffen. Dabei ist es keineswegs voyeristisch, sondern erzählt sensibel von den unterschiedlichsten Gefühlen, denen die beiden Frauen und ihre Familien ausgesetzt waren und sind. Ein lesenswertes Buch für alle, die sich mit dem Thema RAF beschäftigen wollen, eine wichtige Ergänzung zu der reichhaltigen „Täterliteratur“.