Vor 2 1/2 Jahren beeindruckte mich der Roman „Alle, außer mir“ von Francesca Melandri sehr, in dem sie mir ein Stück Italien und seine Geschichte näher brachte. Nun lag unterm Weihnachtsbaum ihr Erstling, über den die Schenkende über einen Dialog auf Facebook gestolpert war. Ich war gespannt, wie es mir mit diesem Buch ergehen würde und die Tage zwischen den Jahren boten genau die dafür notwendige Zeit.

Der Inhalt

Eva ist Anfang vierzig, als sie einen Anruf erhält, daß der Mann, den sie wie einen Vater geliebt hat, im Sterben liegt. Jahrzehnte hat sie nichts von ihm gehört, aber sie macht sich sofort auf den Weg aus ihrer Heimat Südtirol ganz hinunter in den Süden Italiens, wo Vito Anania lebt. Wir begleiten sie auf ihrer Zugreise durch das Land, während der sie sich an ihre Kindheit erinnert und von ihrer Mutter erzählt: Gerda, die von ihrem Vater verstoßen wurde und die Eva gegen viele Widerstände alleine großgezogen hat.

Meine Meinung

Ein tolles Buch! Es gefiel mir noch besser als „Alle, außer mir“ – vielleicht, weil mir die Gegend, in der der Roman spielt, näher war: Südtirol. Wie in Marco Balzanos Roman „Ich bleibe hier“ bildet die Geschichte dieser Region den Hintergrund für das Schicksal von Eva und ihrer Mutter. Allerdings dringt Francesca Melandri noch viel tiefer in deren wechselvolle Geschichte, der Landschaft und ihrer Menschen ein. Sie erzählt von Gerdas Vater, dem Großvater Evas, der sich nie damit abfinden konnte, daß Sürdtirol nach dem ersten Weltkrieg Italien zugesprochen wurde, sich den Nationalsozialisten anschloss und nach dem zweiten Weltkrieg als gefühlskalter Mann zurückkehrte, der mit Frau und Kindern in ärmlichsten Verhältnissen, als „Optant“ verachtet lebt. Ihr Bruder Peter schließt sich dem Widerstand gegen die Italiener an und wird zum Terroristen, Gerda selbst wird als Küchenmädchen in ein Hotel geschickt, wo sie jedoch ihre Bestimmung als Köchin findet. Als sie schwanger wird, verstößt sie der Vater und sie kann nur weiterarbeiten, nachdem sie ihre Tochter Eva während der Saison in eine Pflegefamilie gibt. Eine kurze Zeit des Glücks erleben Mutter und Tochter, als Gerda Vito kennenlernt, einen italienischen Soldaten. Warum die Beziehung in die Brüche ging, weiß Eva nicht, aber sie vermisst Vito schmerzlich.

Diese Familiengeschichte bettet Francesca Melandri ein in die Geschichte vom Südtirol des 20. Jahrhunderts. Wir lesen über die Bomber, die ersten Unabhängigkeitskämpfer, die sich mit Gewalt gegen die Italianisierung ihrer Heimat wehren, die jedoch Gewalt gegen Menschen strikt ablehnen. Wir lesen über die Folter, die die italienische Polizei an den Gefangenen verübt und wie sich die Spirale der Gewalt immer weiter dreht. Wir lesen von Silvio Magnago, der gegen alle Widerstände versucht, eine Autonomielösung für Südtirol zu erreichen und der in Aldo Moro einen Gesprächspartner findet, der bereit ist, sich auf einen Dialog einzulassen. Und wir erfahren, wie der Tourismus sich zu einer tragenden Wirtschaftssäule entwickelt. Wie Fancesaca Melandri all diese vielfältigen Handlungsstränge miteinander verwebt, das fand ich einfach großartig!

Die Zugreise, auf die sich Eva begibt, bildet die Rahmenhandlung und die Beschreibungen der Landschaften zeigen, wie vielfältig dieses Land ist. Eva wird während dieser Reise auch bewußt, daß sie Südtirolerin und Italienerin ist. Immer wieder fällt im Buch der Satz „Eva schläft“: Gleich zu Beginn im Prolog, als ihre Mutter Gerda die Annahme eines Päckchens an Eva von Vito verweigert, später, als ein Soldat zu Gerda ins Zimmer will und ganz am Ende, als Eva bei Vito ist und nach der langen Reise neben ihm einschläft – endlich hat sie innere Ruhe gefunden.

Fazit: Ein wunderbarer Lesegenuß, spannend, literarisch gelungen und anrührend – große Leseempfehlung!

Hier können Sie einen Blick ins Buch werfen

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