Wiedergelesen: „Mein verwundetes Herz“ von Martin Doerry
Eines der berührendsten Zeitdokumente aus der Zeit des dritten Reiches nach dem „Tagebuch der Anne Frank“ ist jetzt zum Glück wieder als preiswerte Ausgabe lieferbar!
Lilli Schlüchterer, eine Jüdin aus gutem Hause und promovierte Ärztin, heiratete 1926 den jungen Arzt Ernst Jahn. Das Ehepaar hat 5 Kinder und eine gemeinsame Praxis in Immenhausen, einem kleinen Ort in der Nähe von Kassel. Mit Beginn des Naziregime jedoch beginnen mehr und mehr Repressalien gegen die Familie, vor allem gegen Lilli. Ihr wird die Approbation entzogen und während ihre Mutter 1939 nach England auswandern kann, bleibt Lilli mit ihrer Familie in Deutschland – zu ängstlich ist ihr Mann, der sich nicht vorstellen kann, in England eine neue Existenz aufbauen zu können. Der Druck auf die Familie steigt immer mehr und Ernst, der sich seiner Frau immer unterlegen gefühlt hat, da sie im Gegensatz zu ihm eine promovierte Ärztin ist, kann dem nicht lange stand halten: Während Lilli immer mehr isoliert wird und kaum mehr das Haus verlassen kann, nimmt er sich eine junge Ärztin als Partnerin in die Praxis, mit der er bald auch ein Verhältnis beginnt. Dies bleibt natürlich in der Nachbarschaft nicht lange verborgen und so läßt er sich von seiner Frau scheiden und gibt seine Frau damit der Verfolgung durch die Nazi’s preis. Lilli nimmt sich mit den Kindern, die mit der jungen Geliebten ihres Vaters kein gutes Verhältnis haben, eine Wohnung. Und hier begeht sie einen folgenschweren Fehler: An das Klingelschild ihrer Wohnung bringt sie eine alte Visitenkarte an, auf der noch ihr Doktortitel steht und ihr zweiter, verordneter Vorname Sara fehlt. Kurz danach (1943) wird sie verhaftet und in ein Arbeitslager nach Breitenau gebracht, 1944 wird sie nach Auschwitz deportiert, wo sie im Juli 1944 stirbt.
Seine besondere Wirkung bekommt diese Buch durch seine authentischen, durch keine nachträgliche Erinnerung gefilterten Texte: Es besteht aus Briefen, die Lilli Jahn an ihren Mann geschrieben hat, vor allem aber aus einem Briefwechsel zwischen ihr und ihren Kindern in den Jahren 1943 / 44, als sie bereits im Lager war. Die Entdeckung dieser Briefe ist schon eine Geschichte für sich: 1998, nach dem Tod von Gerhard Jahn, Bundesjustizminister im Kabinett Willy Brandt’s und ältester Sohn Lilli’s, fand die Familie bei ihm einen Karton mit über 500 Briefen. Es war Lilli gelingen, diese Briefe vor ihrem Tod einer Aufseherin anzuvertrauen, die sie nach dem Krieg den Kindern übergab. Der Enkel Lilly Jahns, Martin Doerry, wählte aus diesen Briefen die aussagekräftigsten aus und stellte sie, versehen mit zeitgeschichtlichen Hintergrundinformationen zu einem erschütternden, zutiefst berührenden Buch zusammen.
Man muß »Biographien lesen, und zwar nicht die Biographien von Staatsmännern, sondern die viel zu raren Biographien der unbekannten Privatleute« schrieb Sebastian Haffner in seinem Buch »Geschichte eines Deutschen«.
So kann ich dieses Buch nur wärmstens empfehlen und es in eine Reihe stellen mit dem „Tagebuch der Anne Frank“ oder den Tagebüchern von Viktor Klemperer.
Susanne Martin
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