Auf den neuen Roman von Dörte Hansen wartete sicher nicht nur ich voller Spannung, sondern sehr viele andere begeisterte Leser:innen von „Altes Land“ und „Mittagsstunde“. Ich war gespannt, ob es ihr gelingt, die Qualität der beiden Vorgängerromane zu halten. Und das kann ich schon vorweg sagen: Es ist ihr voll und ganz gelungen!

Im Mittelpunkt des Romans steht vor allem die Familie Sander, die seit Generationen auf einer Nordseeinsel zu Hause ist: Jens Sander, der jahrelang als Kapitän zur See fährt und die Seefahrt und seine Familie irgendwann aufgibt und einsam als Vogelwart und -präparator lebt. Seine Frau Hanne, die stets mit dem Beruf den Mannes haderte, dann aber ihren eigenen Weg fand, mit ihrem Schicksal als Seemannsfrau und später als verlassene Ehefrau zurecht zu kommen. Drei Kinder hat das Paar: Ryckmer, der älteste Sohn war ebenfalls Seemann, bis er nach einem traumatischen Erlebnis sein Kapitänspatent verloren hat und sich seither mit Gelegenheitsjobs und sehr viel Alkohol über Wasser hält. Eske arbeitet als Altenpflegerin im Inselpflegeheim, entspricht mit einem über und über tätowierten Körper und einer Vorliebe für Heavy Metal überhaupt nicht dem Bild einer Inselbewohnerin, wie sie sich Inselbesucher:innen vielleicht vorstellen. Und der Jüngste, Hendrik, hat seine ganz eigene Beziehung zur See: Er ist sich selbst genug, lebt mit seinem Hund in einer Werkstatt am Strand, in der er aus den Schätzen, die die Nordsee anschwemmt, seltsame Kunstwerke baut, die sich großer Belibtheit erfreuen.

Wir lernen aber auch den Inselpastor Lehmann kennen, der eigentlich zwei Gemeinden betreut: Die der Inselbewohner:innen und diejenigen, die vom Festland auf die Insel kommen, um dort ihren Urlaub zu verbringen oder die ein Haus besitzen, in dem sie ab und zu sind. Er ist beliebt und versteht, wie seine Frau es ausdrückt „sein Handwerk“ – dennoch gerät er in eine tiefe Krisen, eine „Pastoritis“.

Die eigentliche Hauptperson jedoch ist die See, die das Leben der Menschen auf der Insel bestimmt und Generationen Arbeit gab, die Stürme, vor denen sich Ryckmar Sander fürchtet, der stets auf den ganz großen Sturm wartet, die Faszination, die sie auf die Gäste ausübt, die meist nur die Schönhei der Inselstrände und das heilende Klima, nicht jedoch ihre Grausamkeit wahrnehmen. Gleichzeitig beschreibt Dörte Hansen die Zeitenwende, die auch vor den Inselbewohner:innen nicht halt macht: Aus Sommergästen, die fast zur Familie gehörten, werden Touristen, die immer höhere Ansprüche stellen, im Shantychor singen mehr zugezogene als Einheimische mit und Fischer fahren nicht mehr zur See, um von ihren Fängen zu leben, sondern sie nehmen auf ihre Fahrten Touristen mit, die sie an Bord bewirten: „Erholungsfischerei mit Anschubfinanzierung der EU“ spotten sie.

Wie Dörte Hansen das alles schreibt, hat mir hervorragend gefallen. Dieser Roman ist ganz anders als die beiden Vorgängerbände, nicht so gefällig, fast ganz ohne Dialoge und in einem ganz eigenen Sound. In einem Interview auf BR 24 erzählt sie nicht nur, daß eine Hauptmotivation beim Schreiben dieses Romans die Frage war, was genau uns eigentlich an der See so fasziniert, sondern sie berichtet auch eben jenem besonderen Sound, den sie für dieses Buch schaffen wollte und an dem sie sehr lange gefeilt hat. Immer wieder hat sie sich den Text auch laut vorgelesen. Und da wusste ich auch, warum ich dieses Buch nach dem Lesen auch noch hören wollte: Für mich hat sich nämlich dieser ganz besondere Sound, die feine Ironie und der trockene Humor, aber auch die Tragik, die in der Geschichte liegt, über das Hören noch einmal ganz besonders erschlossen. Gelesen wird das Hörbuch dieses mal nicht von Hannelore Hoger, sondern von Nina Hoss, die das Hören mit einer fast lakonischen, aber dennoch sehr nuancierten Lesweise zu einem großen Genuss macht.

Fazit: Es hat ein wenig gedauert, bis ich „drin“ war im Buch, aber es gehört für mich zu den besonders eindrücklichen Lese- und Hörerlebnissen dieses Bücherjahres!

Wenn Sie sich einen Eindruck vom Stil des Buches machen möchten, können Sie hier einen Blick ins Buch werfen.

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