Vor einiger Zeit stellte ich Ihnen das Buch Die Kieferninseln von Marion Poschmann vor, das der Lesekreis auf der Rohrer Höhe als Lektüre ausgewählt hatte. Dieser Roman erzählt davon, daß ein Mann seine Frau verlässt, weil er geträumt hat, daß sie ihn betrügt, und nach Japan reist. Nun lasen wir diesen Roman von Peter Stamm – ein Roman, der ein ähnliches Motiv behandelt, jedoch auf ganz andere Weise.
Thomas und Astrid sind gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt und trinken ein Glas Wein auf der Terrasse. Als der kleine Sohn Konrad weint, geht Astrid hinein, um nach ihm zu schauen. Thomas bleibt sitzen und nach einer Weile, Astrid kehrt nicht zurück, sondern packt den Koffer aus, steht er auf und geht. Er verlässt sein Haus, seine Familie, die Firma, in der er arbeitet und macht sich auf einen Weg, von dem er nicht weiß, wohin er ihn führen und ob er ihn verlassen und wieder zurückkehren wird.
Schon wieder ein Mann, der einfach so abhaut seufzte ich innerlich, aber natürlich war mir klar, warum dieses Buch vorgeschlagen worden war. Dabei erzählt Peter Stamm eine vollkommen andere Geschichte: Sein Thomas bleibt in der Schweiz, er geht in die Alpen und übernachtet im Freien, in Ställen oder in Berghütten. Er möchte nicht gefunden werden, aber er bemüht sich auch nicht sonderlich, seine Spuren endgültig zu verwischen.
Im Gegensatz zu Marion Poschmanns Roman erfahren wir hier auch, wie es seiner Frau und den beiden Kindern nach seinem Verschwinden ergeht: Astrid wartet zunächst, daß Thomas zurückkehrt, sie sagt den Kindern, er sei ein paar Tage weg, meldet ihn krank. Erst nach einigen Tagen beginnt sie zu begreifen, daß Thomas nicht zurückkehren wird und meldet ihn als vermisst. Aber sie und die Polizei suchen vergeblich nach ihm.
Das Besondere ist, wie Peter Stamm diese Geschichte erzählt:
Zum einen erfahren wir fast nichts aus dem Innenleben seiner Hauptfiguren, vor allem von Thomas. Warum er geht, ob er irgendwelche Vorstellungen von einem neuen Leben hat – nichts davon erzählt uns der Autor. Einen kleinen Hinweis gibt der erste Satz, in dem Thomas den Garten, in dem er sitzt, mit einem dunklen Verlies vergleicht. Auch Astrid bleibt uns irgendwie fern. Zwar lesen wir von der einen oder anderen Gefühlsregung, aber mir blieb auch sie merkwürdig fremd.
Der Roman (der eigentlich eher eine Novelle ist) changiert zudem zwischen den tatsächlichen Geschehnissen und dem, was sich Astrid oder Thomas jeweils dazu vorstellen. Man muss genau lesen, um diese wechselnden Ebenen zu erkennen und letztendlich auch entscheiden, was man nun glauben will – das gilt ganz besonders für den Schluß des Romans. Außerdem gibt es sehr schöne Landschaftsbeschreibungen, wie mir überhaupt die Sprache gut gefallen hat.
In diesem Interview sagt Peter Stamm, seine Theorie sei, daß Thomas wegginge, weil er so die Zeit anhalten wolle, denn er ertrage es nicht, daß sich alles verändere. Er schiebt jedoch gleich hinterher: „Aber das ist nur so eine Theorie. Ich bestehe da nicht drauf.“ Das lässt uns Leser*innen jede Möglichkeit, uns eine eigene Meinung und eine eigene Theorie zu bilden.
Mein Fazit: Dieser Roman lässt alles offen und ließ mich nach der Lektüre zunächst ratlos zurück. In der regen und vielschichtigen Diskussion mit den anderen Leserinnen jedoch hat sich mir manches erschlossen und ich schaue nun anders auf dieses Buch als zuvor.
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Eine Leseprobe finden Sie hier