Der dritte Roman von Francesca Melandri, der zu ihrer Trilogie der Väter gehört ist bereits 2012 erschienen und 2019 im Wagenbach auf Deutsch neu aufgelegt worden. Nachdem mir die beiden anderen Bände dieser Trilogie „Alle außer mir“ und „Eva schläft“ sehr gut gefallen haben, war ich gespannt auf den dritten Band.
Auch in diesem Roman verwebt Francesca Melandri wieder gekonnt eine Phase der italienischen Zeitgeschichte mit persönlichen Schicksalen:
Im Jahr 1979, während der „bleiernen Jahre“, in denen Italien von linkem und rechtem Terror erschüttert wurde, machen sich zwei Menschen auf zu einer italienischen Gefängnisinsel: Luisa, eine Bäurin, deren Mann 2 Menschen umgebracht hat und die seitdem ihre 5 Kinder auf ihrem Bauernhof alleine großzieht und Paolo, pensionierter Philosophielehrer, dessen Sohn als Terrorist im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses einsitzt und der nicht verstehen kann, wie sein Sohn zum Terroristen werden konnte. Beide möchten ihre Angehörigen besuchen. Nach den Besuchen möchten sie so schnell wie möglich zur Fähre zurück, aber mittlerweile ist der Maestrale so stark geworden, daß der Fährverkehr zum Festland eingestellt wurde und die beiden die Nacht auf der Insel verbringen müssen, bewacht von Wachmann Pierfrancé Nitti. In dieser unerwarteten Situation beginnen Luisa und Paolo miteinander zu sprechen.
Auch dieser Roman hat mir sehr gut gefallen. Im Vergleich zu den beiden anderen Trilogie-Teilen ist dieser Roman mit gerade einmal 206 Seiten schmal. Trotzdem ist in ihm viel enthalten. Im Mittelpunkt stehen mit Luisa und Paolo Menschen, die bei Gewaltverbrechen eher am Rande stehen: Die Angehörigen der Täter. In der Berichterstattung wird in der Regel Tätern und deren Opfern viel Raum eingeräumt, daß auch das Leben der Angehörigen von Tätern sich vollkommen verändert wird dabei kaum beachtet. Wie kommen sie mit der Schuld zurecht, die ihr Sohn oder Ehemann auf sich geladen haben? Genau damit beschäftigt sich Francesca Melandri in ihrem Roman. In einem steten Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart erfahren wir, wie unterschiedlich Luisa und Paolo mit der fundamentalen Veränderung ihres Lebens umgehen.
Luisa ist als Mutter und als Bäurin gefordert. Nach der plötzlichen Festnahme ihres Mannes muss sie den Hof alleine bewirtschaften und gleichzeitig ihre Kinder versorgen. Das tut sie tatkräftig und ohne zu jammern, nachdem sie sich in die Situation eingefunden hat bekommt man als Leser:in das Gefühl, daß die Abwesenheit ihres Mannes eher eine Erleichterung für sie ist. Sie erkennt ihren Mann eigentlich nur wieder, wenn sie bei den Besuchen im vorherigen Gefängnis ihren Sohn mitbringen konnte, den der Vater so zärtlich anlächelt wie einst sie, ganz am Anfang ihrer Beziehung.
Paolo wiederum kann einfach nicht verstehen, wie aus seinem Sohn ein Terrorist werden konnte, der 3 Menschen kaltblütig hingerichtet hat. Mit dem Hass, den der Sohn auf den Staat empfindet und die Hoffnung, durch Terror eine Revolution zu verursachen, kommt er nicht zurecht. Seine Frau hat die Verurteilung des Sohnen nicht verkraftet und ist wenige Monate nach dem Urteil gestorben. Trotzdem liebt Paolo seinen Sohn, er kann ihn nicht, wie er es von anderen Angehörigen erfährt, verstoßen. Aber die Besuche sind für ihn immer eine Qual, weil kein Gespräch und Verständnis füreinander aufkommen kann. In seinem Geldbeutel verwahrt er das Bild eines Mädchens, das seinem ermordeten Vater eine weiße Rose auf den Sarg legt. Er hat es aus einer Zeitung ausgeschnitten.
Diese beiden so völlig unterschiedlichen Menschen sind nun gezwungen, eine Nacht auf der Insel zu verbringen, untergebracht in einem Raum, bewacht von Pierfrancé Nitti, der ebenfalls für eine Gruppe Menschen steht, denen wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird: Den Wachmännern, die ihren Dienst in Gefängnissen tun und die täglich mit Schwerverbrechern und Gewalt konfrontiert werden. Diese Arbeit verändert die Männer und Nittis Frau hat Angst um ihren Mann, der immer mehr verstummt und immer öfter Blut- und andere Spuren auf seiner Kleidung mitbringt.
Trotz der Schwere des Themas gelingt es Francesca Melandri ihre Geschichte in einer sehr poetischen Sprache zu erzählen. Man spürt die Sonne, den Wind und schmeckt vor allem die vielen Gerüche, von denen die Inselluft erfüllt ist. Das versetzt auch Paolo immer wieder in die Zeiten zurück, in denen er mit Frau und Kind Urlaub in Ligurien machte und das Verhältnis zu seinem Sohn noch liebevoll und unbeschwert war. Luisa sieht zum ersten Mal in ihrem Leben das Meer und genießt das in vollen Zügen. Die Enge des Gefängnisses, die rigiden Beschränkungen für Besucher und Häftlinge und die Brutalität, die immer wieder durchscheint bilden einen harten Kontrast zu der lieblichen Umgebung. Und wie schon bei Eva schläft gelingt es ihr wunderbar, die politische Stimmung, die das Land und seine Menschen prägt, im Hintergund mit zu erzählen. Dass sie dafür intensiv recherchierte und mit vielen Zeitzeugen gesprochen hat, die ihr manches anvertrauten, worüber sie sonst kaum sprechen konnten, merkt man diesem Roman an.
Fazit: Ein wunderbarer literarischer und stimmungsvoller Roman, in dem Zeitgeschichte und ihre Auswirkungen auf die einzelnen Menschen gekonnt miteinander verknüpft sind. Absolut lesenswert!
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