Diesen Roman hielt ich im Frühsommer zum ersten Mal im Urlaub in Norddeutschland in der Hand. Aber wir waren mit dem Zug unterwegs und die Gepäckmenge limitiert. Nun machte es seinen Weg bis auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises und ich bedanke mich beim Luchterhand Verlag, der mir ein kostenfreies Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte.

Der Inhalt

Ein kleiner Ort am Nord-Ostsee-Kanal, zwischen Natur, Kreisstadt und Industrie, kurz nach dem Jahreswechsel. Mitten aus dem Alltag heraus verschwindet eine Familie spurlos. Das verlassene Haus wird zum gedanklichen Zentrum der Nachbarn: Julia, Ende dreißig, die sich vergeblich ein Kind wünscht, die mit ihrem Freund erst vor Kurzem aus der Großstadt hergezogen ist und einen kleinen Keramikladen mit Online-Shop betreibt. Astrid, Anfang sechzig, die seit Jahrzehnten eine Praxis in der nahen Kreisstadt führt und sich um die alt gewordene Tante sorgt. Und dann ist da das mysteriöse Kind, das im Garten der verschwundenen Familie auftaucht.

Sie alle kreisen wie Fremde umeinander, scheinbar unbemerkt von den Nächsten, sie wollen Verbundenheit und ziehen sich doch ins Private zurück. Und sie alle haben Geheimnisse, Sehnsüchte und Ängste. Ihre Wege kreuzen sich, ihre Geschichten verbinden sich miteinander, denn sie suchen, wonach wir alle uns sehnen: Geborgenheit, Zugehörigkeit und Vertrautheit. (© Luchterhand Verlag)

Meine Meinung

Das Buch hatte mich beim reinlesen sofort gefangen genommen. Ich sah die Containerschiffe durch den Nord-Ostsee-Kanal schweben und das Dorf, in dem die beiden Hauptprotagonistinnen Julia und Astrid leben und ich sah den Jungen, der immer wieder im Lafe der Handlung auftaucht.

Die Handlung wird abwechselnd aus Julias Perspektive und der von Astrid erzählt. Julia gehört zu den Menschen, die sich einen gewissen Idealismus leisten können: Gemeinsam mit ihrem Freund Chris hat sie sich ein Haus im Dorf gekauft und in mühevoller Eigenarbeit renoviert. Er ist Biologe und arbeitet in einem Institut in Hamburg und untersucht die Wasserproben der Gegend auf Plastikrückstände, sie hat in der nahegelegenen Kleinstadt eine Töpferei aufgemacht, in den zwar wenig Kundschaft kommt, mit dem sie aber gute Onlineumsätze macht. Sie haben kein Auto und versuchen, alles mit dem Fahrrad oder öffentlichen Verkehrsmitteln zu machen, was teilweise mühsam ist. Julia wünscht sich unbedingt eine Familie, nachdem sie selbst bei ihrer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen ist und ihren Vater nie kennenlernte. Für Chris ist das weniger wichtig und er ist zunehmend genervt von den erfolglosen, teuren Hormonbehandlungen. Julia treibt sich in Onlineforen herum, in denen Familien ihre glücklichen Kinder zeigen und in denen angeblich erfolgreiche Methoden diskutiert werden, wie man erfolgreich schwanger wird.

Astrid ist so ziemlich das Gegenteil von Julia: Sie ist um die 60, Mutter 3er erwachsener Söhne und hat über viele Jahre ihre eigene Praxis geführt, für die sie nun eine Nachfolge sucht. Das ist nicht einfach in der Kleinstadt, die zunehmend verödet und in der zahlreiche Geschäfte geschlossen werden. Ihr Mann Andreas ist pensionierter Geschichtslehrer und verfolgt intensiv die aktuellen politischen Entwicklungen, ja er hat sich sogar bei Twitter angemeldet, nicht zur Freude seiner Frau. Astrid hat eine Tante im Dorf, in dem Julia lebt, die sie regelmäßig betreut. Diese beginnt, sich zu verändern, eine Veränderung, die Astrid nicht wahrhaben möchte. Zusätzlich beschäftigt sie, daß Marli, eine frühere Nachbarin und enge Freundin ins Dorf zurückgekehrt ist, das sie vor vielen Jahren verlassen hat, nachdem ihre Familie zerbrochen ist. Auch die Freundschaft zwischen Astrid und Marlit zerbrach.

Und dann ist da noch das leerstehende Haus von Julia und Chris‘ Nachbarn, in dem eine mehrköpfige Familie gelebt hat, die seit Wochen niemand mehr gesehen hat. Julia hatte kaum Kontakt zu der Familie, aber dennoch beschäftigt sie das Verschwinden. Der Junge, der dort manchmal im Garten steht, hinterlässt merkwürdige Botschaften, verschwindet aber, wenn sie versucht, ihn  anzusprechen.

Aus diesen Zutaten baut Kristine Bilkau eine subtile Spannung auf, die mich zunächst sehr rasch gefangennahm. Sie reflektiert über eine Zeit des Umbruchs, der sich sowohl im Leben ihrer Figuren, als auch an den Orten, in denen sie leben und arbeiten zeigt: Die Kleinstadt im Niedergang, das Dorf, in dem man sich eher aus dem Weg geht, als miteinander spricht, in dem jeder für sich lebt und sich kaum für die Nachbarschaft interessiert. Dieser Umbruch manifestiert sich auch in den beiden Frauen: Julia beginnt sich immer öfter zu fragen, ob ihr Kinderwunsch wirklich das ist, was ihr Leben reicher macht, während Astrid langsam erkennt, daß sie selbst auch ihren Anteil an der zerbrochenen Freundschaft mit Marli hat. Mit den merkwürdigen Eigenheiten, die ihre Tante entwickelt, kann sie nur schlecht umgehen, sie will nicht wahrhaben, daß diese sich auf ihr Lebensende vorbereitet. Wie die Autorin das alles beschreibt hat mir gut gefallen.

Trotzdem hat die Spannung im Verlaufe des Romans für mich irgendwann nachgelassen. Ich war zunehmend genervt von der Besessenheit Julias, schwanger zu werden. Es werden eine ganze Reihe von Geheimnissen aufgebaut, die sich bis auf wenige nicht auflösen, vieles bleibt bis zum Schluss in der Schwebe. Das ist natürlich legitim, aber mich hat die Lektüre weniger befriedigt als erhofft.

Fazit: Ein gut geschriebener Roman, der ein feines Beziehungsgeflecht entwirft und die Stimmung einer Zeit und Gegend im Umbruch sehr gut einfängt. Trotzdem blieb für mich zu viel in der Schwebe, aber vielleicht es ist genau dieses ambivalente Gefühl, das Kristine Bilkau bei ihren Leser:innen erreichen will.

Hier können Sie einen Blick ins Buch werfen

Wenn Sie Lust bekommen haben, das Buch selbst zu lesen, können Sie es in den beiden Vaihinger Buchhandlungen buch+musik oder Vaihinger Buchladen bestellen oder herunterladen. Die Links führen direkt in die jeweiligen Webshops.