Dieses Buch fiel mir in verschiedenen Besprechungen auf und ich dachte zuerst, es handle sich um ein Buch für Kinder oder Jugendliche. Aber weit gefehlt! Hier handelt es sich um ein ganz ungewöhnliches Buch, das sich mit einem Thema auseinandersetzt, das in letzter Zeit wieder sehr aktuell geworden ist: Heimat. Aber was ist Heimat, eigentlich genau? Der Vielschichtigekeit dieses Begriffes geht die Illustratorin und Graphikerin Nora Krug in diesem sehr persönlichen Buch nach.
Hier etwas über den Inhalt zu erzählen ist schwierig, denn es handelt sich bei diesem Buch um eine Mischung aus Text und Bild, aus alten Dokumenten und Schulheften, aus Zeichnungen und Fotografien. Es ist in keine Kategorie einzuordnen, das Wort „Graphic Memoir“ drückt es für mein Gefühl sehr gut aus.
Nora Krug, geboren in Karlsruhe, kommt als junge Frau nach New York und findet Unterschlupf bei einer Freundin. Als sie abends auf der Dachterrasse von deren Wohnung in Brooklyn sitzt, fragt eine alte Dame, die nicht weit entfernt in einem Liegestuhl sitzt, sie, woher sie käme. Als sie antwortet „Aus Deutschland“ sagt die Dame „Das dachte ich mir“. Und erzählt ihre Geschichte, wie sie das KZ Auschwitz überlebt hat. Und sie sagt: „Das alles ist lange her. Bestimmt hat sich sether viel verändert. Sie machen auf mich den Eindruck, als seien Sie von liebenden Eltern aufgezogen worden.“
Diese Begegnung ist für Nora Krug die Initialzündung, sich auf eine intensive Spurensuche in die Familien ihrer Eltern zu begeben. Was haben Großeltern, Tanten und Onkel während des Naziregimes getan, was wussten sie und was nicht? Von diesen Fragen geleitet nimmt sie uns mit und lässt uns teilhaben an ihren Erkenntnissen.
Dieses Buch hat mich wirklich beeindruckt. Und ich habe mich in der Gefühlswelt der Autorin wiedergefunden: Die Verunsicherung, wie ich mit der deutschen Geschichte umgehen sollte, Schuldgefühle, die ich eigentlich gar nicht haben muss. Diese Gefühle hatte ich sehr oft auch bei Reisen in’s Ausland und so wundert es mich nicht, daß auch die erwähnte Begegnung auf dem Dach in Brooklyn zu dieser Recherche der Familiengeschichte führte.
Schon das Titelbild des Buches zeigt, worum es geht: Es zeigt die Autorin auf einem Berg stehend in die Weite blicken – angelehnt an das Bild von Caspar David Friedrich, das den Inbegriff deutscher Heimat darstellt. Aber was ist die Heimat letztlich – die Familie, die Landschaft, die Menschen, die Kultur, das ganz sicher, aber kann man das auch losgelöst von der Geschichte sehen?
„Wie kann man begreifen, wer man ist, wenn man nicht weiß, woher man kommt?“ steht hinten auf dem Buch. Die Vielschichtigkeit der Emotionen, aber auch die vielen verschiedenen Schicksale in einer Familie, die zu Handlungen oder Familiengeschichten führen, die später möglicherweise gar nicht mehr nachvollziehbar sind, dies darzustellen ist schwierig und deshalb passt für mich die gewählte Form wirklich hervorragend. Die Texte sind klar und nachdenklich formuliert, die Illustrationen ergänzen sie perfekt. An manchen Stellen sind es aber auch Originaldokumente wie zum Beispiel Schulhefte des Onkels oder Fragebögen aus der Zeit der Entnazifizierung.
Besonders bewegt mich die Geschichte von Nora Krug’s Vater, der einen Bruder hatte, der im 2. Weltkrieg fiel und dem seine Eltern den gleichen Namen gaben. Was macht das mit einem Kind, das eine Kindheit im Schatten dieses toten Bruders verbringen muss? Vielleicht liegt das auch daran, daß ich in letzter Zeit gleich zweimal genau solche Geschichten in meinem Umfeld gehört habe. Auch die Geschichte des Großvaters, der mit dem Geld, das ihm sein Jüdischer Chef gab, eine Fahrschule gründete. Hat er diesen Chef wirklich im Gartenhaus versteckt, wie die Legende sagt? War er in der NSDAP? Die Mutter sagt, nein, aber stimmt das?
Eingestreut in diese Collage sind immer wieder Seiten, auf denen über das nachgedacht wird, was die heimwehkranke Auswanderin besonders vermisst: Hansaplast, Uhu oder Leitzordner. Genannt wird as „Katalog deutscher Dinge“. Und sind es nicht genau solche Dinge, die auch Heimat ausmachen können?
Fazit: Ein tolles Buch, ein wichtiges und ein anregendes Buch, das ich allen dringend zur Lektüre und Betrachtung an’s Herz lege!
Einen kleinen Eindruck vom Innenleben des Buches verschafft Ihnen dieses Video (1:04 Min)
Auf der Homepage von Nora Krug können Sie ein Video über den „Work in Porgress (9:53 Min.) ansehen und (allerdings ziemlich schnell) durch die amerikanische Ausgabe blättern (0,35 Min.)
Denis Scheck sprach mit Nra Krug über ihr Buch auf der frankfurter Buchmesse. Sie können das Video hier anschauen (25:14 Min)
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Im Moment (Stand April 2019) ist das Buch als Sonderausgabe auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich. Es kann, zzgl. Versandkosten, hier bestellt werden