Die Krimis von Dror Mishani lese ich sehr gerne und als ich auf einem Auslagetisch im Vaihinger Buchladen dieses Buch liegen sah, habe ich es gleich mitgenommen. Mich interessierte, wie dieser kluge und reflektierte Autor auf die Ereignisse des 7. Oktober blickt. Und das Besondere an Tagebüchern (oder auch Briefsammlungen) ist für mich immer, dass sie direkt aus dem Moment heraus geschrieben sind und nicht erst Monate oder Jahre später, wenn die Schreibenden schon aus einer gewissen zeitlichen Distanz über Ereignisse oder Biographisches berichten. Erinnerungen können trügerisch sein!
Vom 7.10.2023 – zum 10.3.2024 gehen die Aufzeichnungen, in denen der Autor versucht, die schrecklichen Ereignisse zu verstehen und eine Haltung dazu zu entwickeln. Als ihn die ersten Nachrichten erreichen, ist er in Toulouse auf einem Krimifestival und es dauert ein paar Stunden, bis er realisiert, dass es hier nicht um einen weiteren Anschlag, sondern um ein Massacker jenseits aller Vorstellungskraft geht. Er kann erst 2 Tage später zurückkehren und lässt uns in seinen darauffolgenden Einträgen teilnehmen am Entsetzen, den Ängsten, aber auch der Schwierigkeit, sich von der immer martialeren Berichterstattung und Stimmung nicht mitreissen zu lassen, sondern wahrhaftig zu bleiben und mit offenen Augen zu sehen und zu schreiben.
Wir erfahren auch, was der Krieg mit der Familie macht: Seine Ehefrau stammt aus Polen und ist keine Jüdin, sie versteht nicht, dass die Israeli angesichts der Berichte und Nachrichten über den Überfall sich an die Schilderungen von Progromen in Europa erinnert fühlen. Sein Sohn weiß, dass er in wenigen Monaten zum Militär muss, zeigt aber kaum Interesse an dem, was passiert, sondern freut sich über die freie Zeit, die er an der X-Box verbringt. Die Tochter schaut sich heimlich die schrecklichen Videos im Internet an und entwickelt sich zur heftigen Befürworterin der Luftangriffe auf Gaza. Dass ihr Vater kurz nach dem Überfall der Hamas einen Artikel in der israelischen Zeitung Haaretz veröffentlicht hat, in dem er Zweifel daran äußert, ob es richtig ist, Gaza auszuradieren, kann sie nicht verstehen.
Zuflucht und Trost findet Dror Mishani in der Literatur. Er liest in der Bibel oder der Ilias, tröstet sich mit Texten von Stefan Zweig und liest seinen verstummten Studenten in einer Vorlesung einen berührenden Text von Natalia Ginzburg vor. Einige dieser Texte sind auch im Buch abgedruckt. Immer wieder ist er mit einem Freund auch auf dem „Geiselplatz“ einem Ort, an dem an einer langen, festlich gedeckten Tafel 240 Stühle stehen, jeder für eine Geisel.
Mich hat dieses Buch sehr berührt, ich konnte es nicht am Stück lesen, sondern brauchte immer wieder einmal eine Pause, um einzelne Abschnitte sacken zu lassen. Mich hat der ungeschminkte Blick in den israelischen Alltag beeindruckt, den ich hier gewonnen habe, diese Mischung aus Ängsten und Gewöhnung an die Situation. Mir gefiel ganz besonders das stete Ringen um das Bewahren der Menschlichkeit, darum, nicht nur zu sehen, was den Israeli angetan wurde, sondern auch, was die israelische Armee teilweise in Gaza anrichtet. Dabei sieht Dror Mishani nicht nur das israelische, sondern auch das palästinensiche Leid, eine Haltung, die im Israel dieser Zeit nicht gern gesehen wird. So wird dieses Buch vorerst wohl auch kaum in Israel erscheinen, sondern nur im Ausland.
Wer sich für die Thematik des Nahost-Konflites interessiert, bekommt in diesem Buch einen Einblick in die Gedankenwelt eines Autors, der erkennen muss, dass sich nicht nur seine Familie, sondern auch Israel durch den 7. Oktober tiefgreifend verändert hat und der dennoch versucht, daran festzuhalten, dass es Frieden nur dann geben wird, wenn das Leid auf beiden Seiten aufhört. Leseempfehlung!
In diesem Interview in der Frankfurter Rundschau spricht Dror Mishani anlässlich des Erscheinens seiens Tagebuchs in Deutschland über das Buch und seine Haltung zu den Ereignissen.
Wenn sie das Buch lesen möchten, können Sie es im Vaihinger Buchladen bestellen oder herunterladen. Der Link führt direkt zum Titel im Webshop.
Wenn Sie vorher einen Blick ins Buch werfen möchten, können Sie das hier tun.