Das Thema Erinnerung finde ich ein interessantes, denn immer wieder stelle ich in Gesprächen mit Freund:innen oder in der Familie fest, wie unterschiedlich wir Dinge erinnern. Letztes Jahr las ich das großartige Erinnerungsbuch „Vater.Mutter.Kind.Kriegserklärungen“ von Margit Schreiner und den Roman „Stummes Echo“ von Susan Hill, beides Bücher, die sich auf ganz unterschiedliche Weise dem Thema annähern. Als ich einigen Foren und Rezensionen auf diesen Titel von Abbas Khider stieß, war mein Interesse gleich geweckt, denn im Klappentext heißt es: „Welche Erinnerungen fehlen, welche sind erfunden und welche sind verfälscht?“ Das sind Fragen, die vermutlich nicht nur ich mir stelle.
Abbas Khiders Roman erzählt von Saif Al-Wahid, einem Deutschen mit irakischen Wurzeln, der seit vielen Jahren in Berlin – Neukölln lebt. Als er einen Anruf von seinem Bruder aus Bagdad erhält, daß seine Mutter im Sterben liegt und er so schnell wie möglich kommen soll, wenn er sie noch einmal sehen will, ist er gerade auf dem Weg nach Hause von einem Podiumsgespräch in Mainz. Sofort macht er sich auf den Weg zum Frankfurter Flughafen, um nach Bagdad zu fliegen. Die Reise dorthin bildet eine Art Rahmenhandlung, von der aus sich Saif erinnert an wichtige Episoden seines Lebens. Dass er so spontan aufbrechen kann, verdankt er der Tatsache, daß er seinen Reisepass immer bei sich trägt seit er ihn hat, so schwierig war es, ihn zu bekommen. Diese Beschreibung ist ein Musterbeispiel deutschen Behördenwahnsinns.
Auf seinem Weg zum Flughafen und nach Bagdad gibt es immer wieder kleine Episoden, die für Saif den Anstoß geben, sich zu erinnern an sein Leben: Der Anblick einer älteren Dame auf einer Bank beispielsweise, die im Spiegel liest, bringt ihn zum Nachdenken über die Unterschiede deutscher Frauen und Frauen im Irak wie seine Mutter. Diese Gedanken führen ihn dann zurück in seine Kindheit und die Geschichte seiner Familie. In solchen Erinnerungsmomenten ist sich Saif aber nie sicher, ob das, was er erinnert wirklich so passiert ist, er sehnt sich danach, mehr Details zu erinnern. Er hat bei sich das Symptom der Erinnerungsverfälschung diagnostiziert, das unabsichtliche Verfälschen bestehender eigener Gedächtnisinhalte. „Seine Erinnerungen sind unvollendete Ereignisse, unpräzise Skizzen eines Ortes, verborgene Gestalten und verschleierte Gesichter. Alles Teile eines großen Puzzles, das es zusammenzusetzen gilt, wenn man sich erinnern will.“ (S.48) Seine Begabung als Schriftsteller befähigt ihn jedoch, die Puzzleteile, die ihm fehlen, zu erfinden und so eine logische Handlung aufzuschreiben. Und genau das lesen wir in diesem Buch: Viele einzelne Puzzleteile ergeben das Bild eines Menschen, der seine Heimat verloren hat und dem es gelungen ist, in Deutschland Fuß zu fassen, den aber seine Vergangenheit nicht loslässt.
Wie Abbas Khider das erzählt, hat mir unheimlich gut gefallen. Das Buch hat eine Leichtigkeit trotz des Schweren, das darin erzählt wird, die verschiedenen Episoden und Zeitebenen werden kunstvoll und immer wieder auch mit einem Augenzwinkern miteinander verbunden. Und auch wenn das Verfälschen der Erinerungen bei Khiders Protagonisten Saif einen ungleich ernsteren Hintergrund haben, so ist es doch eine Erfahrung, die ich und sicher auch viele andere Menschen mit ihm teilen: Sein Leben geradlinig zu erinnern kann schwierig sein, aber viele Erinnerungen können durch Erlebnisse im Hier und Heute ganz plötzlich wieder auftauchen. Ob sie dann wirklich so passiert sind, das steht auf einem anderen Blatt.
Wenn Sie sich für das Thema Erinnerung, aber auch für das, was Menschen mit Wurzeln in anderen Kulturen in Deutschland erleben, interessieren, dann kann ich Ihnen dieses Buch nur wärmstens empfehlen!
Wenn Sie sich einen Eindruck vom Stil des Buches machen wollen, könnenm Sie hier einen Blick hineinwerfen
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