Als Inhaberin der Schiller Buchhandlung bekam ich immer wieder Angebote von Autor*innen, ihre Bücher zu lesen und / oder eine Lesung in unserer Buchhandlung zu veranstalten. Meist gab’s dazu einen Hinweis darauf, daß das Buch bei amazon gut bewertet worden sei – das schreckte mich eher ab. Ebenso machte es mir wenig Lust, mich mit diesen Angeboten zu beschäftigen, wenn ich feststellte, daß die Bücher im Sebstverlag oder in einem Verlag erschienen waren, der von den Autor*innen saftige Druckkostenzuschüsse verlangen.
Nun habe ich mehr Zeit und als mir die mail von Judith Reusch in’s Postfach flatterte, die mir ein Rezensionsexemplar ihres Buches anbot, gleich eine Rezension aus dem Mannheimer Morgen anhängte, die sich interessant anhörte und mir das Buch auch schicken wollte, als sie hörte, daß ich keine Buchhandlung mehr habe, habe ich zugegriffen.
Polen Anfang der 80er Jahre: Theresa hat die Ausreisepapiere für die Bundesrepublik bekommen, wo ihr Mann Anton schon seit einiger Zeit lebt. Die beiden Töchter Ewelina und Ania bleiben bei den Großeltern – es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie im Rahmen der Familienzusammenführung nachkommen dürfen. Das denkt jedenfalls Theresa. Aber der polnische Staatschef Jaruzelski verhängt das Kriegsrecht und das führt dazu, daß die beiden Schwestern länger bei ihren Großeltern bleiben müssen als geplant. Erst ein Jahr später ist es dann soweit: Ania und Ewelina kommen zu ihren Eltern nach Köln. Es wird für Ania jedoch nicht einfach, sich in der neuen Heimat zurechtzufinden.
Im Mittelpunkt steht die 9jährige Ania, aus der in Köln Anna wird. Sie ist ein intelligentes, nachdenkliches und eher zurückhaltendes Mädchen, ganz im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester Ewelina, die sich lebhaft und viel bewegt und außerdem gerne und gut Klavier spielt. Ewelina hat Ania auch ihr Wörterbuch gezeigt, von dem Ania sofort fasziniert ist. Das einzige, was sie stört ist, daß in diesem Wörterbuch nur Erklärungen stehen und keine Geschichten dazu. Deshalb führt sie ihr eigenes „Buch der Wörter“, in das sie Worte einträgt, die ihr begegnen und die sie noch nicht kennt und denkt sich selbst kleine Geschichten aus, in denen diese vorkommen. Das Lexikon ihrer Eltern ist ihr dabei ein Vorbild, auch wenn ihr die Geschichten zu den jeweiligen Einträgen darin viel zu langweilig sind. Leider stehen in ihrem Buch nur polnische Wörter, mit denen sie in Köln wenig anfangen kann. Und während Ewelina sich schnell in der neuen Schule einlebt und auch rasch beginnt, Deutsch zu sprechen, tut Anna sich ungleich schwerer. Sie beobachtet zuerst einmal ihre Klassenkameraden und spricht nicht. Erst als sie sich mit Melanie anfreundet, die mit ihr zusammen im Chor singt, beginnt sie langsam, sich zu öffnen.
Die Eltern der beiden Mädchen, vor allem Theresa, sind glücklich, als sie ihre Kinder bei sich haben. Aber als Anna immer schweigsamer wird und zeitweise ganz verstummt, machen sie sich große Sorgen. Sie hoffen, mit einem Umzug in ein kleines Reihenhaus auf dem Land, Anna helfen zu können. Die Miete dort ist jedoch so hoch, daß beide Elternteile voll arbeiten müssen und Anna nach der Schule meist alleine ist. Aber gerade das ist der erste Schritt hin zu einer neuen Normalität.
Eine zweite Handlungsebene erzählt von Thea, die als Lektorin in einem Verlag arbeitet und von ihrem Kollegen das Manuskript mit Annas Geschichte in die Hand gedrückt bekommt mit der Bitte, ihre Meinung dazu zu sagen. Thea ist eine Einzelgängerin, im Verlag kaum integriert, ihr Leben besteht nur aus Arbeit und Lesen. An dem Tag jedoch, als sie das Manuskript zum Buch erhält ist sie verkatert, weil sie aus Versehen zu einer Enweihungsparty ihrer neuen Nachbarn gegangen ist. So aus ihrem normalen Lebensrhytmus geworfen, macht sie Dinge im Verlag, die sie vorher nie tat.
Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen. Judith Reusch findet eine sehr schöne, poetische Sprache für ihre Geschichte. Dadurch erzeugt sie auch eine sehr dichte Atmosphäre. Die Großeltern sind wichtige Bezugspersonen für die beiden Schwestern und sie unterstützen die Aussiedlung ihrer Tochter, auch wenn es ihnen schwer fällt.
Zumeist erleben wir die Handlung aus Anias Perspektive, aber es wird auch von Theresas Schwierigkeiten erzählt, sich in Deutschland zurecht zu finden. Zentral ist die Bedeutung der Sprache – sowohl Theresa, als auch Anna tun sich schwer mit dem Deutschen. Vor allem Anna, die so wissbegierig Wörter sammelt, fühlt sich wie in einem Vakuum: Das polnische Buch der Wörter ist sinnlos geworden, ein deutsches Wörterbuch will sie sich lange nicht anlegen. Deshalb verstummt sie auch, denn in ihrem Kopf gibt es eine Trennmauer: Aus ihrer neuen deutschen Welt kann sie auf Deutsch nicht erzählen, weil ihr die Worte fehlen, die polnische Welt, über die sie auf polnisch reden kann, liegt in weiter Ferne. Hierfür findet Judith Reusch ein schönes Bild: Worte sind für Anna wie Inseln, die in einem Meer der Unwissenheit stehen, ohne Verbindung zueinander. Es dauert lange, bis es ihr gelingt, von einer Insel zu anderen zu gelangen.
Was ich etwas schade fand, war, daß ich keine Geschichten aus Annas Buch der Wörter zu lesen bekam. Aber das hätte möglicherweise den Erzählfluss gestört. Die zweite Handlungsebene hat auf mich wie ein Fremdkörper gewirkt: Dient sie dazu, die Spannung aufrecht zu erhalten? Oder will die Autorin eine Parallele herstellen zwischen der zurückgezogenen Lebensweise der Autorin und Annas Schneckenhaus? Beides wäre (jedenfalls für mich) nicht nötig gewesen.
Fazit: Trotz dieser Kritikpunkte ein Buch, das ich mit großem Gewinn gelesen habe. Wie wichtig die Sprache als verbindendes Element ist, wird auf einfühlsame, poetische Weise deutlich. Leseempfehlung!
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