Von Angelika Overath hatte eine Kollegin aus meiner ERFA-Gruppe schon verschiedentlich geschwärmt, aber ich hatte noch nichts von ihr gelesen. So war mir der Vorschlag der Leiterinnen des Lesekreises in Rohr sehr willkommen, um diese Autorin kennenzulernen.
Eine Tochter steht am Bett ihrer toten Mutter im Krankenhaus und hört sie immer noch atmen, obwohl das nicht sein kann. Als sie später in die Wohnung der Mutter ankommt, bestürmen sie die Erinnerungen an ihre Kindheit. Eine Kindheit und Jugend, die dominiert war von einer Mutter, die sie nicht loslassen konnte, einem psychisch kranken Vater, der immer wieder in die Klinik musste, und von „Zuhaus“, der böhmischen Heimat, aus der die Mutter und ihre Familie nach dem Krieg vertrieben wurde. Wir tauchen gemeinsam mit Johanna für eine heiße Sommernacht ein in ihre einsame, beengte Vergangenheit und hoffen am Morgen mit ihr, daß sie sich von ihr wird befreien können.
Johanna ist eine Frau um die vierzig und schon auf den ersten Seiten merkte ich, daß sie ein schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter gehabt haben muss. Das bestätigt sich im Laufe des Buches: Die Mutter wurde mit ihren Eltern, Johannas Großeltern, vertrieben und hat in der neuen Heimat nie Fuß gefasst. „Zuhaus“, das war die böhmische Heimat, die sie verloren hat und die Erfahrung dieses Verlustes prägt ihr ganzes weiteres Leben. Zahlreiche Umzüge, bedingt durch die Krankheit des Vaters, tun ein übriges. Johannas Vater ist auch nicht der Mann, den sie eigentlich heiraten wollte, ebensowenig wie die Mutter die Frau ist, die ihr Vater wirklich liebte. Und so wird Johanna zum Symbol für das, was erstrebenswert ist und zusammenhält: Eine Familie. Die einzige, bei der sie als Kind bis zu deren Tod ein wenig Verständnis erfährt, ist die Großmutter.
Dies ist ein stilles und bedrückendes Buch, das, wie Angelika Overath in einem Interview sagt, autobiographische Züge trägt. Streckenweise konnte ich die erdrückende Liebe von Johannas Mutter kaum ertragen. An einer Stelle spricht die Autorin von „Liebesgewalt“ und davon, daß sich die Mutter, je größer das Kind wurde, immer stärker festlieben musste, das Kind zum Haus der Mutter geworden ist. Natürlich kann man sich fragen, warum Johanna sich nicht zur Wehr setzt, spätestens in der Pubertät. Aber woher soll ein Kind wissen, was schlimm ist, fragt sie sich und an anderer Stelle sagt sie: „Für das Kind ist normal, was die Eltern tun.“
Für ihre Geschichte findet Angelika Overath eine sehr schöne Sprache. So erfindet sie beispielsweise das Wort „Weltern“, mit dem sie den Bruch zwischen der elterlichen Welt beschreibt, in der Kinder aufwachsen und der Welt, die Kinder irgendwann, meist in der Pubertät, selbst entdecken. Sie selbst hat ihre Pubertät durch das Schreiben dieses Romans nachgeholt.
Vieles in diesem Buch wird nur angedeutet und sie verzichtet auf jede Wertung. So blieb mir genügend Raum für eigene Gedanken und Phantasien, was hinter mancher Andeutung stecken könnte. Die Atmosphäre der 60er und 70er Jahre ist wunderbar eingefangen, an manches erinnerte ich mich gut aus eigenem Erleben.
Fazit: Auch wenn es teilweise überaus bedrückend ist, ein wirklich lesenswertes Buch in einer schönen, dichten Sprache!
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Hier können Sie einen Blick in’s Buch werfen
Das Buch ist von der Presse sehr positiv aufgenommen worden, auf perlentaucher.de finden Sie Zusammenfassungen der Rezensionen nach Erscheinen dieses Erstlings 2006
Neben dem oben verlinkten Interview kommt „Nahe Tage“ auch in diesem Interview zur Sprache