Volker Kutscher’s Reihe um den Ermittler der Berliner Mordkommission Gereon Rath gehört für mich zum besten, was es derzeit in der deutschen Kriminalliteratur zu lesen gibt. Die vorherigen Bände hatte ich gehört, nun las ich zum ersten Mal einen Band und war gespannt, ob es dem Autor gelingt, das hohe Niveau der Reihe zu halten. Und ich wurde nicht enttäuscht!
Der Fall, zu dem Gereon Rath im Spätsommer 1935 gerufen wird, scheint klar: Ein Taxi ist mit Vollgas in eine Mauer gerast, Fahrer und Fahrgast sind tot. Aber da ist ein Zeuge, der steif und fest behauptet, das Taxi sei vorsätzlich in die Mauer gefahren und unter dem Sitz findet Gereon eine Aktenmappe mit brisantem Inhalt. Sein Jagdinstinkt ist geweckt und führt ihn bis nach Nürnberg, wo er den Reichsparteitag hautnah miterlebt. Die Lösung des Falls führt ihn nicht nur in die Vergangenheit seiner Frau Charly, sondern er begegnet auch einem Mann wieder, von dem er gehofft hatte, daß er ihn nie wieder sieht: Johann Marlow.
Gereon Rath war schon immer ein Einzelgänger und auch auf seine Karriere bedacht. Nachdem er in der Mordkommission seit seinem letzten Fall mehr oder weniger kalt gestellt ist, hat er sich beim LKA beworben und wird dort eingestellt. Aber der Fall des Taximordes beschäftigt ihn weiter, denn sein ehemaliger Kollege Wilhelm Böhm, der jetzt als Privatdetektiv arbeitet, stellt Parallelen her zu zwei ungelösten Fällen aus den 20er Jahren. Einer davon betrifft den Tod von Charlys Vater. Zunächst widerwillig, aber dann zunehmend interessiert, versucht Rath, neben seinen neuen Aufgaben her zu ermitteln. Dabei verwickelt er sich selbst in immer mehr Schwierigkeiten: Die Spuren führen in höchste politische Kreise und daß er aus der Aktentasche des toten Fahrgastes eine geheime Reichsakte hat mitgehen lassen, weckt die Aufmerksamkeit von den rivalisierenden Diensten des SD und der SS. Daß er mit Charly nicht über diese Ermittlungen sprechen darf, weil sie sie auf’s höchste gefährden könnten, macht die Sache zusätzlich kompliziert.
Charly ist beruflich kaltgestellt: Im neuen Deutschland darf sie als Frau ebensowenig als Ermittlerin der Mordkommision arbeiten wie ihre Ausbildung zur Rechtsanwältin weiter verfolgen. Sie muss sich mit kleinen Aushilfsjobs in ihrer früheren Kanzlei begnügen und bekommt ab und zu Aufträge von Wilhelm Böhm. Als sie erfährt, daß Böhm und Gereon heimlich im Todesfall ihres Vaters ermitteln, will sie unbedingt dabei sein und muss sich ihrem Lebenstrauma stellen.
Fritz, der Pflegesohn von Gereon und Charly ist mit der HJ dabei beim großen Marsch nach Nürnberg. Er genießt das Wanderleben und die Gemeinschaft, aber er vermisst seinen Freund Atze, der die Aufnahmeprüfung zum Marsch nicht bestanden hat. In Nürnberg erlebt er nicht nur den großen Auftritt Hitlers hautnah mit, sondern auch den immer stärker werdenden Antisemitismus, der in der Verkündung der neuen Rassegesetze seinen vorläufigen Höhepunkt findet. Diesen Gesetzen steht er kritisch gegenüber, denn er kennt genügend jüdische Jungen in seiner Schule, die Pfundskerle sind und versteht nicht, warum diese nun nicht mehr zur deutschen Volksgemeinschaft gehören sollen. Daß Gereon ihn in Nürnberg besucht freut ihn, aber er ist auch besorgt, denn Atze’s Vater hat begonnen, seine Pflegeltern überprüfen zu lassen und dafür gesorgt, daß das Jugendamt die Verhältnisse überprüft.
Eingefügt in die Handlung ist noch „Eine andere Geschichte“. In mehreren Abschnitten erfahren wir die Geschichte eines Soldaten des ersten Weltkrieges, der nach dem Krieg seine Geliebte verlor und zu einem der gefährlichsten Gangsterbosse des Berlins der 20er Jahre aufstieg: Johann Marlow. Diese andere Geschichte hat mehr mit Gereon Rath’s aktuellem Fall zu tun, als diesem lieb sein kann.
Wieder einmal hat Volker Kutscher einen hochspannenden, vielschichtigen und beklemmenden Kriminalroman geschrieben. Ich bewundere es, wie geschickt er die verschiedenen Facetten der politischen Entwicklungen in die Handlung einfließen lässt. Sie dienen nicht nur als Motiv für den Kriminalfall, sondern greifen auch tief in den Alltag seiner Protagonist*innen ein. Die Beziehung zwischen Gereon und Charly wird immer schwieriger, weil sie kaum noch miteinander reden und sich wichtige Dinge aus ihrem Leben verschweigen: Charly hat nie über den Tod ihres Vaters gesprochen, an dem sie sich bis heute schuldig fühlt, Gereon versucht ihr zu verheimlichen, an was er gerade arbeitet. Und daß das Jugendamt immer öfter auftaucht, um ihnen nachzuweisen, daß sie politisch unzuverlässig sind, sorgt für zusätzliche Spannungen. Besonders unter die Haut ging mir die Schilderung des Reichsparteitages, bei dem Gereon am Straßenrand steht als Hitlers Konvoi die Menge passiert und sich plötzlich selbst im hysterischen Geschrei der Menge mitschreien hört. Aber nicht nur in dieser Szene zeigt sich die erschreckende Aktualität des Romans: Wann erkennen wir, wohin politische Entwicklungen uns führen können?
Fazit: Hochspannende, niveauvolle Krimikost, absolut empfehlenswert!
Im März 2019 war Volker Kutscher gemeinsam mit Arne Jysch, dem Zeichner der Graphic Novel von Gereon Rath’s erstem Fall in der Stadtbibliothek Stuttgart zu Gast. Ich war dort und wie ich den Abend erlebte können Sie hier nachlesen
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