Mechtild Borrmann gehört zu meinen Favoritinnen unter den Krimiautor*innen. Ich schäatze die prägnante Art, in der sie ihre vielschichtigen Krimis schreibt, auf denen inzwischen oft nur noch „Roman“ steht, weil die Themen, mit denen sie sich beschäftigt weit mehr im Vordergund stehen, als der Kriminalfall. So ist es auch in diesem neuen (Kriminal)Roman.

Der Inhalt

Henriette, genannt Henni, steht 1970 vor Gericht. Sie wird verdächtigt, zwei Menschen getötet zu haben. Es gibt Zweifel daran, aber weil Henni eisern schweigt, gibt es für ihren Verteidiger kaum Möglichkeiten, seine Mandantin angemessen zu vertreten. Ihre Freundin Elsa Brenncke verfolgt den Prozess jeden Tag im Gerichtssaal, sie kennt Henni seit ihrer Kindheit und ist sich sicher, daß diese aufgrund ihrer Vergangenheit vorverurteilt wird. Denn in ihrer Jugend Anfang der 50er Jahre brachte Henni nach dem Tod der Mutter ihre Familie durch Schmuggeln durch, weil der Vater lieber in der Kirche betete, als Geld zu verdienen. Als Hennis Schwester bei einem Schmuggelgang erschossen wird, wird Henni in die Besserungsanstalt gesteckt und ihre beiden Brüder kommen in ein von Nonnen geführtes Erziehungsheim, in dem sie schreckliches erleben. Als Henni und ihr Bruder die damals verantwortliche Schwester Angelika in einer Anhörung zur Rechenschaft ziehen möchten, scheitern sie. Auf der Rückfahrt vom Prozess kommt Schwester Angelika zu Tode und plötzlich holt Henni ihre Vergangenheit wieder ein.

Die Hauptpersonen

Henni steht im Mittelpunkt des Romans. Sie ist ein lebenslustiges, starkes Mädchen, die sich nicht so schnell unterkriegen lässt. Ihren Vater, der traumatisiert aus dem Krieg zurück kehrt, verachtet sie, denn anstatt sich um die Familie zu kümmern, zieht er sich völlig zurück und betet täglich stundenlang in der Kriche. Henni unterstützt ihre Mutter bei der Arbeit in einem Gasthof, aber als diese an einer nicht erkannten Eileiterschwangerschaft stirbt, steht die Familie vor dem Nichts. Henni hat ihrer Mutter am Sterbebett versprochen, sich um die Geschwister zu kümmern und erreicht gegen den Willen des Vaters, der die Kinder bei verschiedenen Verwandten unterbringen will, daß die Familie zusammen bleiben kann. Der Chef ihrer Mutter ermöglicht ihr, sich der Schmugglerbande anzuschließen und bis zum tragischen Tod ihrer Schwester gelingt es Henni, den Lebensunterhalt der Familie zu sichern. In diesem Versprechen ihrer Mutter gegenüber und der Verantwortung, die sie für ihre Geschwister übernommen hat, sind die Gründe für ihre späteren Handlungen zu suchen.

In einer zweiten Handlungsebene lernen wir Elsa kennen, die einem jungen Juristen, der über den Prozess eine Studienarbeit schreiben will, Hennis Geschichte erzählt. Es wird jedoch langsam deutlich, daß Jürgen Loose noch ein weitergehendes Interesse an diesem Prozess hat, dessen Ursache in der Vergangenheit zu finden ist.

Und dann gibt es noch Thomas, der von Fried, Hennis Bruder, einen Anruf erhält, er solle bei einer Anhörung gegen Schwester Angelika aussagen. Thomas wollte nie mehr nach Aachen zurückkehren, wo er eine schreckliche Kindheit im selben Kinderheim wie Hennis Brüder verbrachte. Er ringt mit sich, ob er zum Prozess reisen soll. Und als er dann dort aussagt, führt das zu seinem völligen Zusammenbruch im Zeugenstand.

Meine Meinung

Auch dieser Roman von Mechtild Borrmann hat mich wieder überzeugt. Sie ist eine Meisterin darin, sehr komplexe Zusammenhänge auf relativ wenigen Seiten darzustellen. Das gelingt ihr auch hier wieder – etwas über 280 Seiten hat das Buch, andere bräuchten dafür 100 oder 200 Seiten mehr. Dabei schreibt sie in ihrer präzisen Sprache, die ich sehr schätze, aufrüttelnd über die schrecklichen Zustände, die in den Erziehungsheimen der 50er Jahre teilweise herrschten, oft unter dem Deckmantel der Religion. Aber auch die Schmugglerszene ist sorgfältig recherchiert und spannend beschrieben. In einem Nachwort beschreibt die Autorin, wie sie durch Fotoalben, die sie auf dem Flohmarkt erworben hat, zu diesem Roman angeregt wurde. Zwar sind Handlung und Heim erfunden, aber durch die intensiven Recherchen gelingt ihr eine sehr große Authentizität. Das Ende des Romans würde man sich als Leserin anders wünschen, aber nur wir kennen letzendlich Hennis Gründe für ihre Verhalten und ihr konsequentes Schweigen verhindert ein anderes Urteil.

Fazit: Wieder ein spannender, vielschichtiger Roman, der einen mit einer gewissen Empörung zurück lässt. Absolut emfehlenswert!

Wenn sie luste bekommen haben, das Buch zu lesen, können Sie es bei buch+musik als Buch, Hörbuch oder E-Book bestellen

Eine Leseprobe finden Sie hier

Eine Videorezension von Günter Keil können Sie hier anschauen (Video, 2,33 min)