Harriet Burden ist Dreh- und Angelpunkt dieses Buches, das sich nur schwer fassen lässt. Sie ist Künstlerin und Intellektuelle in den 80er, 90er und 2000er Jahren in Manhattan, heiratet den Galeristen und Kunsthändler Felix Lord – und wird künftig übersehen. Sie ist nur ein Anhängsel Lords, viele empfinden sie als anstrengend und streitsüchtig. Ihre Kunst bleibt erfolglos. Bis sie schließlich, um die 60 Jahre alt und verwitwet, ein Experiment wagt: Getarnt durch drei männliche Künstler, „Masken“, erschafft Harriet Burden drei Kunstwerke, die ausgestellt werden. Der Erfolg lässt nicht lange auf sich warten: Die Ausstellungen – zeitlich mit einigem Abstand gefertigt und veröffentlicht – finden bei Kritikern, Galeristen und Presse großen Anklang, die drei Masken, Anton Tish, Phineas Q. Eldridge und Rune, werden gelobt und „ihr“ Werk erfolgreich verkauft. Als Burden schließlich die Masken enttarnen will, der Öffentlichkeit zeigen will, dass eine Frau und kein Mann hinter den Kunstwerken steht, glaubt ihr niemand – nicht zuletzt, weil die dritte Maske, Rune, sie zwar als Mäzenin für sein Werk nennt, jede kreative Beteiligung von ihr aber abstreitet.

Siri Hustvedt ist wohl eine der belesensten, intelligentesten Autorinnen unserer Zeit. In ihrem neuen Roman, der jetzt auch als Taschenbuch vorliegt, schreibt sie nicht nur über den Sexismus in der Kunstwelt, sondern auch über das Wesen von Betrachtungen und Erwartungen, von Erwartungshaltungen und was sie mit dem Betrachter anstellt. Sie schreibt über Rollenbilder und wie sie Wahrnehmungen hervorrufen und beeinflussen.

Dabei erzählt sie nicht geradlinig, sondern hat ein Buch im Buch erschaffen. Professor/-in I.L. Hess, deren/dessen Geschlecht nicht näher benannt wird, stößt auf einen Leserbrief in einer Fachzeitschrift, geschrieben von einem Richard Brickman. Über diesen wird Hess auf Harriet Burden aufmerksam, zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben, ebenso wie der Künstler Rune, und beginnt, eine Biografie zusammenzustellen. Dazu sammelt Hess aber nicht einfach Fakten und Daten, sondern lässt das Umfeld von Burden zu Wort kommen sowie – in Tagebuchauszügen – auch Burden selbst. Die Texte sind nicht immer chronologisch geordnet, und sie spiegeln wider, wie unterschiedliche Menschen auf ganz unterschiedliche Art auf Harriet Burden und ihr „Masken“-Experiment reagiert haben.

Mich hat dieses Buch unglaublich fasziniert: Hustvedt fordert uns als Leserinnen und Leser zwar heraus, sie lässt die Erzählenden in vielen verschiedenen Stilrichtungen zu Wort kommen, baut Referenzen und Querverweise ein, es gibt jede Menge Fußnoten, bei denen man manches Mal nicht genau weiß, ob sie auf reale oder fiktive Werke verweisen, und sie mischt gekonnt historische Personen und Ereignisse mit erdachten, bezieht sich auch auf die Welt eines ihrer früheren Werke („Was ich liebte“). Das einzig mit Sicherheit Reale ist die Thematik dieses Buches. Und obwohl es ein bisschen eine Herausforderung ist, dieses Buch zu lesen (nein, ich bin nicht jedem Querverweis gefolgt, das war mir doch zu aufwendig), ist es zuallererst eine Bereicherung und ein Genuss. Ein Genuss, weil Hustvedt es wie kaum ein anderer Mensch versteht, mit Sprache umzugehen. Vielfältig und kraftvoll und zärtlich und klar schreibt sie. Und eine Bereicherung, weil sie einen oft genug in die eigenen Denkmuster-Fallen laufen lässt, aber genügend Rüstzeug anbietet, um sich selbst daraus zu befreien. Weil ihr Buch ambivalent und vielschichtig ist und sich nicht mit einer Perspektive zufriedengibt. Weil es den Horizont erweitert.