Der persona-Verlag aus Mannheim ist ein Ein-Frau-Betrieb, der 1983 von Lisette Buchholz gegründet wurde. Ich habe schon immer wieder interessante Bücher im Programm des Verlages gefunden, besonder in Erinnerung geblieben ist mir „Die Kundin“ von Pierre Assouline und „Buchgeflüster“ von Annie Francois.

Nun haben die BücherFrauen sich als Jahresthema auf die Fahnen geschrieben, kleinere, unabhängige Verlage sichtbarer zu machen, denn in dieser Zeit einer weltweiten Pandemie ist es gerade für diese Verlage nach mittlerweile 3 abgesagten Buchmessen und über Monaten hinweg geschlossenen Buchhandlungen immer schwieriger geworden, ihre Programme sichtbar zu machen. Auf verschiedene Weise möchte das Netzwerk einige Verlage und ihre Bücher sichtbar machen, unter anderem durch Interviews mit Indie-Verlegerinnen auf seinem Blog, Verlagsvorstellungen auf Instagram und in seinem Podcast Buchmacherinnen. Für diesen Podcast durfte ich kürzlich eine Buchempfehlung abgeben und habe mir diesen Roman aus dem persona Verlag ausgesucht, den ich natürlich auch gerne hier auf meiner Seite vorstellen möchte.

Inhalt und Meinung

Der Autor Rachid Benzine ist ein aus Marokko stammender Politologe und Historiker des Islam, der in Frankreich lebt und lehrt. Dieses Buch schrieb er im Jahr 2016 unter dem Eindruck des Attentats auf den Pariser Konzertsaal Bataclan am 13. November 2015.

Für seinen ersten Roman hat er sich für die Briefform entschieden. Ein Vater erhält einen Brief von seiner Tochter Nour, der ihn zutiefst erschüttert:  Nour hat sich in den Irak abgesetzt und dort einen führenden IS-Kämpfer geheiratet. Zwischen Vater und Tochter beginnt ein leidenschaftlicher Briefwechsel über zwei Jahre: er, der liberale Islamgelehrte, der seine Tochter nach dem frühen Tod der Mutter alleine aufgezogen hat, kann es nicht fassen, daß seine kluge und begabte Tochter sich für diesen Weg entschieden hat. „Nour, porqoui n’ai je rien vu venier“ – Nour, warum habe ich nichts kommen sehen, so lautet der Originaltitel des Romans und das ist die Frage, die den Vater quält. Er versucht, sie an die vermeintlich gemeinsamen Werte zu erinnern: Freiheit, Demokratie, die Emanzipation der Völker.

Nour jedoch hat sich genau diese Werte zu eigen gemacht behauptet sie in einem ihrer Briefe: „Du hast gesagt „sei frei“. Du hast gesagt „Sei größer als ich, Dein Vater.“ Du hast gesagt „Hab keine Angst, subversive Wege zu gehen, denn Allahs Botschaft, gepriesen sei Er, ist eine Botschaft der Auflehnung.“ Der Weg, den sie eingeschlagen hat, ist für sie ein Weg in eine Zukunft, die sich frei gemacht hat von einer Selbstsucht, die eigene Wünsche über das Leid anderer stellt.

Mit diesem Weg emanzipiert sie sich von ihrem Vater, sie erlebt eine ganz andere Art der Solidarität, Freundschaft und Liebe und sie strebt gemeinsam mit ihrem Mann nach einer humanen Welt die, „endlich einmal nach dem Bilde Allahs sein wird, gepriesen sei Er, und nach dem Bild seines Propheten, Friede und Heil über Ihn.“ Aus diesem Zitat spricht auch die Wut über die empfundene Erniedrigung durch die Ungläubigen, die Kreuzzügler.

Ihr Vater versucht immer wieder, sie zur Rückkehr zu bewegen, aber seine Argumente erreichen Nour nicht, auch wenn sie mit ihm leidet, als sie erfährt, welche Konsequenzen ihr Handeln für ihn hat: Er wird vom Geheimdienst verhört, der ihm unterstellt, Nours Flucht organisiert zu haben. Wenig später wird er von einem ehemaligen Studenten krankenhausreif geschlagen. Von diesem Studenten hatte er sich einmal erhofft, er könne sein Nachfolger werden, inzwischen jedoch ist er ein fanatischer Imam.

Die Briefe sind durchzogen von der großen Liebe, die die Beiden miteinander verbindet, aber sie zeigen auch, wie unterschiedlich die vermeintlich gleichen Werte interpretiert werden können. Man liest die Argumente der Dschihadisten aber auch die anderer Menschen wie Nours Vater. Für mich war es nicht ganz einfach zu lesen, denn man merkt, daß Rachid Benzine Wissenschaftler ist und manche Begriffe musste ich erst nachschlagen, um den Kontext ganz zu begreifen.

Dennoch habe ich den Text voller Spannung und Anteilnahme gelesen. Wie zwei Menschen, die einander so nahestehen und auf einer Grundlage gleicher Werte vollkommen unterschiedliche Schlüsse für ihr Leben ziehen können, hat mich beschäftigt. Ist das doch etwas, was wir, wenn auch nicht mit dieser extremen Ausprägung auch in dieser Zeit erleben: Wir merken, wie plötzlich Familienmitglieder oder Freundinnen unser Grundgesetz und die darin enthaltenen Werte wie Freiheit oder Solidarität vollkommen anders interpretieren und sich in Parallelwelten aufhalten, in denen wir sie nicht mehr erreichen können.

Rachid Benzine hat seinen Briefroman auch zu einem Theaterstück umgeschrieben.  In einem Interview des Deutschlandfunks sagt er: „Ich denke, die Fiktion ist vielleicht der kürzeste Weg zur Wirklichkeit. Wenn man das im Theater sieht, kann man sich damit identifizieren.“ Für ihn kann Theater Raum geben, sich gegenseitig zuzuhören und sich dadurch besser zu verstehen. Das Theaterstück hat nach seiner Aussage eine viel größere Auswirkung als jeder Artikel von ihm, weil es in Gefängnissen vor Djihadisten gespielt wird,  aber auch in Theatern und Schulen.

Das Gegenteil von Kenntnis ist nicht Unwissenheit, sondern Gewissheit. Und wenn man viele Gewissheiten über sich und die anderen hat, dann ist die Gewalt nie sehr weit entfernt.“ Das sagt Benzine im selben Interview und für mich ist das auch die Essenz aus diesem Roman: Sich Kenntnis verschaffen und sich vor Gewissheiten zu hüten, das kann ein Kompass sein in diesen bewegten Zeiten.

Wenn Sie das Buch gerne selbst lesen möchten, können Sie es in den beiden Vaihinger Buchhandlungen buch+musik oder Vaihinger Buchladen bestellen.

Übrigens: Wenn Sie sich wundern, warum diesen Mal bei buch+musik kein Link angegeben ist, ist das ein weiterer Grund, der es kleineren Verlagen schwer macht, ihre Bücher sichtbar zu machen: Der Shop der Buchhandlung, auf den ich normalerweise verlinke gehört zum Großhändler LIBRI, der vor einiger Zeit entschieden hat, Bücher, die sich nicht in genügend hoher Stückzahl verkaufen, nicht mehr zu führen. Leider hat dies jedoch auch zu Folge, daß das Buch in den Shops der Buchhandlungen gar nicht angezeigt wird und so der Eindruck entstehen kann, das Buch sei nicht mehr lieferbar, obwohl es beim Verlag und bei einem der 3 Großhändler verfügbar ist. Im Shop des Vaihinger Buchladens wird der Titel immerhin angezeigt, auch wenn die Besorgungszeit etwas länger geht als sonst. Beide Buchhandlungen können Ihnen den Titel also besorgen!

Hier können Sie auch noch eine ausführliche Rezension von Hazel Rosenstrauch auf CulturMag lesen