Bei diesem Buch weiche ich von meinem üblichen Schema ab, zunächst den Inhalt und dann meine Meinung zu formulieren, denn ich finde, das es dazu nicht passt. Ich bedanke mich bei der Verlagsgruppe PenguinRandomhouse, die mir ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.

Inhalt und Meinung

„Das Baby ist tot. Wenige Sekunden haben genügt“ Mit diesem Paukenschlag beginnt der Roman, der sich um den Mord an zwei Kindern dreht, begangen von ihrer Nanny Louise. Auf den ersten 4 Seiten wird beschrieben, was die Mutter der Kinder und die Polizei vorfanden – nicht im Detail, aber so, daß man das Entsetzen aller Beteiligten spüren kann. Louise’s Versuch, sich die Pulsadern aufzuschneiden ist misslungen, sie liegt im Koma, aus dem sie bis zum Ende des Buches nicht erwachen wird.

Auf den folgenden gut 280 Seiten geht Leïla Slimani der Frage nach, was da eigentlich passiert ist, wie es zu dieser Tragödie kommen konnte. Sie erzählt von Myriam und Paul, den jungen Eltern, die nicht nur Eltern sein wollen, sondern auch ihren beruflichen Ehrgeiz haben. Paul arbeitet in der Musikszene und Myriam hat erfolgreich ein Jurastudium absolviert, das sie kurz vor der Geburt der Tochter abgeschlossen hat. Als sie kurz nach der Geburt von Mila wieder schwanger wird freuen sich beide, aber nach einigen Monaten wird Myriam klar, daß das Leben als Mutter sie nicht ausfüllt. Sie wird immer unzufriedener und als sie das Angebot eines Komilitonen bekommt, in dessen Anwaltskanzlei einzusteigen sagt sie zu und eine Nanny wird gesucht. Papiere muss sie haben, darf keine eigenen Kinder haben (davor haben Freundinnen sie dringend gewarnt) und sie soll auch keine Maghrebinerin wie sie sein – sie befürchtet eine „Solidarität unter Migranten, die ihr schon immer suspekt war“. Louise ist die perfekte Nanny – die Kinder lieben sie auf den ersten Blick, in wenigen Tagen hat sie die Wohnung in Ordnung gebracht, näht Knöpfe an, kocht – kurz, sie wird für die Familie unentbehrlich.

Je unentbehrlicher Louise für die Familie wird, desto größer wird ihre Macht, ohne das Paul und Myriam das zunächst registrieren. Sie nehmen die Nanny sogar mit in den Familienurlaub, so bleibt ihnen doch mehr Zeit für sich. Sie widmen sich intensiv ihrer Karriere, wissen sie ihre Kinder doch in vermeintlich guten Händen. Aber wissen tun sie eigentlich nichts über Luise, außer daß ihr Mann verstorben ist und ihre Tochter schon lange aus dem Haus. Sie spüren nicht die Einsamkeit ihrer Nanny, wissen nichts von den drückenden Schulden oder dem ärmlichen Apartment in dem sie haust, merken nicht, wie sie immer mehr abdriftet in Angst und Wahn.

Als Leser:innen erfahren wir von den Geschehnissen vor allem aus Myriams und Louise’s Perspektive, eingeschoben sind kurze Kapitel, in denen wir von Louises Mann, Tochter und einem ehemaligen Schützling erfahren. Leïla Slimani erzeugt eine Spannung, die sich langsam steigert: Louise wird nicht nur uns Leser:innen, sondern auch Myriam immer unheimlicher. Aber sie wehrt sich nicht und wagt es nicht, Grenzen zu ziehen, zu bequem ist das Leben geworden und zu wichtig ist ihr der Beruf. Gleichzeitig liebt sie ihre Kinder sehr und hält die inneren Konflikte nur schwer aus, Paul ist ihr dabei keine Unterstützung.

Wie die Autorin diese Geschichte erzählt fand ich großartig. In diesem Roman verbirgt sich eine scharfe Gesellschaftskritik: Da geben Eltern ihre Kinder in die Obhut von Frauen, über die sie eigentlich nichts wissen und auch nichts wissen wollen. Weder Paul noch Myriam fragen Louise nach ihrem Leben oder interessieren sich dafür, wo und wie sie lebt, wenn sie nicht bei ihnen ist. Dass sich Louise auch in ihrer Wohnung einnistet, dort duscht, weil ihre Dusche verschimmelt ist, ihr eigenes Handtuch an einem unauffälligen Platz ablegt, das bekommen sie gar nicht mit. Gleichzeitig übergeben sie aber ihr die Verantwortung über die Erziehung ihrer Kinder. Diesen Widerspruch konnte ich nur schwer aushalten. Dabei finde ich den Wunsch von Myriam (und anderer Frauen) nach einem erfüllten Familien- UND Berufsleben ebenso berechtigt.

Für die Nannys sind die Stellen lebensnotwendig, sie sind eine Zeitlang unentbehrlich bis die Kinder in die Schule kommen. Dann müssen sie sich eine neue Familie suchen und das Herz der Kinder gewinnen, während sie langsam aus dem Gedächtnis der Kinder verschwinden, für die sie eine Zeitlang die wichtigste Bezugsperson waren. Louise kommt mit dieser Situation immer weniger zurecht. Im Kreis der anderen Nannys, die sich regelmäßig auf dem Spielplatz treffen und die fast alle aus Afrika stammen, ist sie als Weiße eine große Ausnahme. Die Distanz, die sie zu ihnen hält, nehmen sie ebenso hin wie die Tatsache, daß sie sich nie an den Gesprächen über die jeweiligen Dienstherren beteiligt. Wenige Sätze genügen Leïla Slimani, um den Kosmos dieser Frauen sichtbar zu machen.

Eines der dem Roman vorangestellten Mottos ist von Rudyard Kipling und drückt genau das aus: „….Ihr kam nie in den Sinn, daß Miss Vezzis ein eigenes Leben und eigene Angelegenheiten hatte, um die sie sich sorgte, und dass diese Dinge für Miss Vezzis das Wichtigste auf der Welt waren.“ Also hat sich eigentlich in den letzten 100 Jahren wenig geändert.

Fazit: Keine leichte Lektüre, mich hat sie stellenweise bedrückt. Trotzdem habe ich das Buch mit Spannung, Anteilnahme und großem Gewinn gelesen und es bietet reichlich Stoff zum Nachdenken und zur Diskussion!

Wenn Sie sich einen Eindruck vom Stil des Romans machen möchten, können Sie hier einen Blick ins Buch werfen.

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