Dieses Buch interessierte mich schon vor dem Ausbruch des Ukrainekrieges, denn auch in meiner Familie gibt es die Erfahrung der Vertreibung. Gelesen habe ich es jedoch erst nach dem Ausbruch des Krieges und ich glaube, das hat mein Lesen noch einmal verändert und vertieft.

Worum geht’s in dem Buch? Das lässt sich in wenigen Sätzen sagen: Christiane Hoffmanns Vater floh im Januar 1945 als Kind mit seiner Familie vor den heranrückenden Russen aus seinem schlesischen Heimatdorf Rosenthal, heute Rózyna. 75 Jahre später machte sich seine Tochter zu Fuß auf den Weg, um seiner Fluchtroute zu folgen, 550 Kilometer von Ost nach West. In ihrem Buch beschreibt sie ihren Weg und ihre Begegnungen, aber auch die Fluchtgeschichte ihres Vaters. Und sie erinnert sich zurück an ihre Kindheit als Tochter gleich zweier Geflüchteter, denn ihre Mutter floh mit ihrer Familie aus Ostpreußen. Was machen diese Fluchterfahrungen der Eltern mit ihren Kindern? Auf jeden Fall gaben sie der Tochter ein ständiges Gefühl der Bedrohung mit, die ihr Albträume bescherten und eine Rastlosigkeit, die im Heimatverlust des Vaters gründet. So ist es eine sehr nachvollziehbare Entscheidung, sich auf den Weg zu machen, um sich dem Schicksal des Vaters auf einer anderen Ebene anzunähern.

Dieses Buch hat mich ungemein gefesselt und berührt, denn Christiane Hoffmann verflicht Gegenwart und Vergangenheit weit über das Schicksal ihres Vater hinaus. Das Thema, das sich durch das ganze Buch hindurchzieht ist das des Heimatverlusts. Denn nicht nur der Vater und seine Eltern verloren ihre Heimat, sondern auch die Menschen, die nach Kriegsende nach Rosenthal kamen: Polnische Vertriebene aus Ostpolen, die im Zuge der polnischen Westverschiebung ihre Heimat verloren und umgesiedelt wurden. Diese Menschen teilten also das Schicksal der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen. Dieser Aspekt, über den ich zwar theoretisch wusste, wird in diesem Buch sehr lebendig: Während ihrer Wanderung trifft Christiane Hoffemann immer wieder Menschen, mit denen sie ins Gespräch über deren Vergangenheit kommt, aber auch über ihr Verhältnis zur Bundesrepublik oder ihre Einstellung zur Europäischen Union. So entseht ein vielschichtiges Bild der Menschen und Geschichte eines Teils von Europa, der gerade wieder im Focus steht.

Wenn ich in meiner Buchhandlung gefragt würde, wem ich dieses Buch empfehlen würde, dann wäre die Antwort, daß es für Menschen meiner Generation und jüngere geschrieben ist, nicht für die Elterngeneration, die Flucht und Vertreibung selbst erlebt haben. Denn auch wenn Christiane Hoffmann sich in die Perspektive ihres Vaters einfühlt, sind es ihre Gedanken und Interpretationen seines Erlebens, die wir Leser:innen erfahren – er selbst hat über seine Erlebnisse, geschweige denn seine Gefühle, kaum gesprochen. Für mich ist das spannende an diesem Buch, daß es davon erzählt, wie sich historische Ereignisse über Generationen hinweg in die Menschen eingraben können, wie traumatische Erfahrungen an die nachfolgende Generation weitergegeben werden und deren Leben weiter beeinflussen. Eigentlich weiß man das, in diesem Buch wird es greifbar.

Ein Buch, aus dem ich sehr viel mitgenommen habe – historisches, aber auch persönliches – und das darüberhinaus auch sehr gut geschrieben ist. Große Leseempfehlung!

In dieser Leseprobe können Sie sich einen Eindruck vom Stil des Buches machen

Das Buch wurde viel besprochen, als Beispiel verlinke ich auf diese Rezension im Deutschlandfunk, die auch auf die bedrückende Aktualität dieses Buches eingeht, das vor dem Krieg geschrieben wurde, in dem er jedoch bereits für möglich gehalten wird.

Wenn Sie das Buch selbst lesen möchten, können Sie es in den beiden Vaihinger Buchhandlungen buch+musik oder Vaihinger Buchladen bestellen oder herunterladen. Die Links führen direkt in die jeweiligen Webshops.