„Die Form ist nicht nur die Oberfläche.“ Judith Schalansky im Literaturhaus
„Die Bühne gehört dem Wort, der Sprache, dem Erzählen.“ Mit diesen Worten leitete die Lektorin und Herausgeberin Katharina Raabe den Abend mit Judith Schalansky im ausverkauften Literaturhaus ein. Das Stuttgarter Schriftstellerhaus und der Hospitalhof waren Kooperationspartner für diesen Abend.
Dick oder dünn, groß oder klein?
Zunächst gehörte die Bühne jedoch der Form, denn darum ging es in der ersten Frage, die die Moderatorin ihrem Gast stellte. Schließlich schreibt Judith Schalansky nicht nur Bücher, sondern sie macht sie auch, und Bücher machen ist etwas völlig anderes als Bücher schreiben. Sie denkt ein Buch von außen nach innen: „Die Form ist nicht nur die Oberfläche“ sagt sie, „sondern es geht auch darum, ob es dick oder dünn, groß oder klein werden soll“. Bei ihrem aktuellen Buch „Verzeichnis einiger Verluste“ stand zum Beispiel die Seitenzahl der einzelnen Geschichten von vornherein fest: 30.000 Zeichen sollten sie haben. Sie musste sich außerdem sehr genau überlegen, wie viele Verluste aussortiert werden müssen, um den Umfang des Buches nicht zu sprengen. Diesen Prozess vergleicht die Autorin mit einer Abschlussarbeit im Studium: „Man muss überlegen, was kommt rein, was kommt raus. Wenn ich das habe, dann wird das Buch zum Formular und ich muss es nur noch ausfüllen.“ Natürlich tut auch ihr kürzen weh, während „ranstricken“ immer irgendwie geht.
Nicht nur Kulturereignisse, sondern auch Natur
In ihr Buch wollte sie nicht nur verlorene Kulturereignisse aufnehmen, sondern auch die Natur: Ihre Lesung vom Kampf des letzten Kaspischen Tigers fesselte das anwesende Publikum. Aber auch ein Monster taucht im Buch auf, der letzte Rest eines einmal geplanten und dann doch verworfenen Porjektes, nämlich eines Führers durch die Welt der Monster. „Es gibt kein bekloppteres Monster als das Einhorn“ – als Mutter einer 4jährigen Tochter muss sie es wissen. Dem Einhorn hat sie in der Erzählung „Guerickes Einhorn“ ein ironisches Denkmal gesetzt.
Das Thema „Verluste“ hat für Judith Schalansky auch viel mit Erinnerung zu tun, deshalb wollte sie auf jeden Fall auch etwas über ihre erste Erinnerung schreiben. In „Das Schloss der von Behr“ tut sie das. Dort lebte sie mit ihrer Familie nur 1 Jahr, aber es ist für sie ein wichtiger Ort, denn hier setzte im Alter von 4 Jahren ihre Erinnerung ein.
Die Sprache entscheidet, ob etwas Literatur ist!
5 Jahre lang hat sie an ihrem Verzeichnis gearbeitet, für sie entscheidet die Sprache, ob etwas Literatur ist, und nicht der Inhalt. So sucht sie sich auch immer wieder „Patenbücher“. Bei der Geschichte des kaspischen Tigers beispielsweise war das der Roman „Kassandra“ von Christa Wolf. Darin fand sie den Tonfall, in dem sie diese Geschichte aus dem alten Rom schreiben wollte.
Wie alle Bücher der Autorin ist auch ihr „Verzeichnis einiger Verluste“ wunderschön gestaltet. Eine Besonderheit sind die Abbildungen, die auf schwarzem Papier gedruckt sind und nur dann zu sehen sind, wenn man sie in einem bestimmten Winkel in’s Licht hält. Die industrielle Herstellung war dabei eine besondere Herausforderung und es war auch eine extra Maschine dafür notwendig, die nicht in der Druckerei, sondern in einer anderen Firma stand. Das Ergebnis kann sich sehen lassen und das fanden auch viele der Zuhörer*innen, das bewies die lange Schlange am Büchertisch und beim Signieren.
Gut 90 Minuten warfen sich Judith Schalansky und Katharina Raabe die Wort- und Satzbälle zu – es war für mich ein Genuss zuzuhören und zu erleben, wie gut die beiden Frauen harmonierten. Auch die Leseabschnitte waren hervorragend gewählt und ich hätte Beiden noch viel länger zuhören können! Eine kluge Autorin, ein interessantes Buch – ein toller Abend!
Text und Bilder: Susanne Martin
Sie können das Buch in den beiden Vaihinger Buchhandlungen buch+musik und Vaihinger Buchladen bestellen.
Dennis Scheck hat sich ebenfalls mit Judith Schalansky über das Buch unterhalten. Sie können das Gespräch hier anschauen (Video, 8:45 Min, verfügbar bis 28.10.2023)