Sobo Swobodnik: Das erste Mal
Es war meine allererste Lesung, Mitte der 90er Jahre. Der Ort, das Literaturhaus in München, und zwar beim obligatorischen Sommerfest, wenn ich mich recht erinnere. Das ganze Literaturhaus war von Autoren und deren Lesungen eingenommen. Auch ich war geladen und sollte am Sonntagnachmittag in einem großen Saal des Hauses mit Bühne, aber ohne Mikrofon lesen. Ich gebe zu, ich war sehr angespannt, auch aufgeregt, wie das vor Premieren gerne der Fall ist. Zur Unterstützung hatte ich einen Freund eingeladen, der sich ganz nach hinten in die letzte Reihe setzte. Zwei Sitze weiter saß eine junge Frau die mir sofort auffiel. Ansonsten war der Raum vielleicht mit 50 Personen, Eltern, Großeltern und auch ein paar Kindern, besetzt.
Die Türen schlossen sich, ich begann. In der ersten Runde las ich am Stück vielleicht zehn Minuten, in denen ich nicht ein einziges Mal vom Buch aufblickte. Ich gebe zu, durch die Aufregung bedingt, war der Vortrag nicht unbedingt ein Vergnügen. Weder für mich noch für die Zuhörer. Ich las zu schnell, zu undeutlich, zu fehlerhaft und wegen dem fehlenden Mikro auch zu leise.
Als ich mit völlig trockenem Mund nach der ersten Runde einen schüchternen Blick in den Zuschauerraum warf, sah ich gerade zwei ältere Damen wie sie sich an der Tür zu schaffen machten, um sich, daran bestand kein Zweifel, davonzustehlen. Womöglich ist das nicht ihr Thema, ihr Genre, dachte ich, kein Wunder ist es doch ein Kinderbuch, bei dem es um sprechende Staubsauger, fliegende Schränke, Teddybären fressende Waschmaschinen und dergleichen ging. Beim zweiten Blick kam mir der Raum nun auch viel weniger gefüllt als noch am Anfang vor.
Scheiß drauf, dachte ich und ging in die zweite Runde. Ähnlich schnell hetzte ich wieder durch die Seiten und hörte dabei ab und an vereinzelte Schritte, gelegentliches Türöffnen und auch Stuhlrücken. Ich ließ mich davon aber nicht beeindrucken und hob erst wieder den Kopf nach weiteren zehn Minuten, um meiner völlig ausgetrockneten Kehle mit einem Schluck Wasser das weitere Sprechen zu ermöglichen. Jetzt hockte plötzlich in dem Raum höchstens noch die Hälfte der Zuschauer, während nun auch ein paar Kinder aufstanden und zielstrebig den Saal in Richtung Tür verließen. Na ja, immerhin noch die Hälfte, dachte ich und las weiter, jetzt noch schneller, weil mit einer bösen Ahnung im Nacken. Ich ging also in die dritte Runde und hetzte wieder, den Blick ganz im Buch vergraben, durch die Seiten, während meine hektische, zitternde Stimme immer wieder von andauernden Türgeräuschen begleitet wurde.
Nach weiteren zehn Minuten und dem anschließenden Blick in den Zuschauerraum war ich entsetzt. Es war niemand mehr im Raum! Doch, Moment, da war noch mein Freund in der hintersten Reihe, der aber… das darf doch nicht wahr sein, der aber… ich wollte es nicht glauben… der aber die Augen fest geschlossen hatte. Schläft der?, fragte ich mich und wusste bei näherer Betrachtung: Der schläft. Die junge Frau, zwei Sitze neben dem Freund, war ebenfalls noch da. Und Überraschung: sie schlief nicht. Sie sah mich aufmerksam an. War da nicht ein Lächeln um ihren Mund? Kein Wunder, dachte ich und sicher ist es ein Ausdruck von Schadenfreude.
Ich las noch ungefähr fünf Minuten, endete dann völlig erschöpft, nass geschwitzt und K.o., während ich vom Buch aufblickte und artig in den leeren Raum hinein „Danke“ sagte. Eine erneute Überraschung folgte: Beifall brandete los. Die junge Frau klatschte frenetisch in die Hände, als wäre da nicht ein Autor nach einer völlig missglückten Lesung, sondern der neue Heilsbringer auf dem Weg ins Paradies, das nun einzig und allein für ihn offen stünde. Mein Freund, zwei Sitze neben der Frau, schreckte aus seinem Schlaf hoch und blickte mich mit fassungslosem Blick an, als wäre ich weder ein Heilsbringer, noch ein missglückter Autor, sondern Herodes höchstpersönlich der eine Heerschar Kinder auf dem Gewissen hatte. Als bliebe mir nichts anders übrig nickte ich ihm zu. Die junge Frau hingegen sprang nun von ihrem Stuhl auf und kam auf mich zugeeilt. An der Bühne angekommen, verlor sie nicht ein einziges Wort über die Lesung oder das Buch, sondern fragte nur, ob sie mich zu einem Kaffee einladen dürfe. Ich war so eingeschüchtert, dass ich kein Wort herausbrachte und weder wie Herodes, noch ein Heilsbringer, auch nicht wie ein missglückter Autor nickte, sondern wie ein vierjähriger kleiner Junge der die Hosen gestrichen voll hatte.
Den Freund verlor ich nicht viel später völlig aus den Augen. Heute habe ich gar nichts mehr mit ihm zu tun. Mit der jungen Frau hingegen bin ich bis heute, fast zwanzig Jahre später, nicht nur gut befreundet, sondern sie ist auch, wie Thomas Bernhard sagen würde, mein Lebensmensch geworden.
Da sieht man mal wieder: was sich im ersten Moment vielleicht wie eine Katastrophe anfühlt, entpuppt sich später womöglich als Glücksfall.
Sobo Swobodnik
Linktipps zu Sobo Swobodnik:
Eintrag in Wikipedia
Seite über die Plotekromane
Ausschnitt aus „Kuhdoo“
Podcastfolge „Kuhdoo – ein literarisch-musikalisches Programm vom Duo Müller“, aufgenommen nach der Performance im Maulwurf 2010
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Copyright Text: Sobo Swobodnik
Copyright Bild: Schiller Buchhandlung, Inh. Susanne Martin