Ein packendes, klug geschriebenes Buch! Ulrike Draesner widmet sich der Thematik der Flucht und Vertreibung und deren Auswirkung auf die nachfolgenden Generationen, vor allem auf die Kinder der damaligen Kinder und Jugendlichen, die in der 60iger Jahren geborene Generation, die die unverarbeiteten Erlebnisse ihrer Eltern aufgesogen hat und oft unbewältigt in sich trägt.
Simone Grohlmann, 52 Jahre alt, Verhaltensforscherin, ein analytischer Mensch, hat Angst vor Schnee. Sie ist eine der sieben Stimmen des Buches, in dem die Autorin von der Flucht und Vertreibung einer Familie aus Schlesien erzählt. Parallel dazu rollt sie die Familiengeschichte einer ukrainischen Familie auf, die nach dem Krieg nach Breslau umgesiedelt wird. Simone Grohlmann forscht, wie bereits ihr Vater, an Affen, an Bonobos. Eustachius Grohlmann, ebenfalls eine der Stimmen und quasi männlicher Protagonist, liebt seine Tochter und sie ihn ebenfalls. Nähe zu ihm herzustellen ist dennoch schwierig. Beide leiden an den Erlebnissen, mit denen Eustachius während der Flucht konfrontiert war, und die ihn, je älter er wird, immer mehr heimsuchen und beschäftigen. Ulrike Draesner greift hier auch auf neuere Erkenntnisse der Gehirnforschung zurück, nach denen sich das Gehirn nach dem siebzigsten Lebensjahr nochmals neu strukturiert. Oftmals werden dann Menschen der Kriegskindergeneration von ihren verdrängten Erlebnissen und Traumata eingeholt. An die Nachgeborenen werden Familiengeheimnisse, Schrecken, Verlust, Hunger, Todesnähe buchstäblich bis in die Gene weitergegeben und tauchen in den unterschiedlichsten irrationalen Ängsten, Zwängen und Krankheiten bei Kindern und Enkeln wieder auf.

Erlebnisse des Fremdseins, des Nichtangekommenseins kennen sicher alle Flüchtlinge, früher wie heute. Erschwerend kommt ja immer auch noch die Reaktion der Umwelt auf das „Fremde“ dazu. Die Integration der Vertriebenen in das Nachkriegsdeutschland wird heute im Allgemeinen als gelungen bezeichnet, oft wurde die neue Heimat jedoch als kalte Heimat empfunden und dem Verlust ein Leben lang nachgetrauert.

Das besondere dieses Buches ist die Haltung der Erzählerin, die selbst der Kriegsenkelgeneration angehört und sich eingehend mit ihrem Erzählgegenstand beschäftigt hat. Sie ergreift nicht einseitig Partei für eine ihrer sieben Stimmen, sondern schafft es, jede der Stimmen authentisch erzählen zu lassen und so ein Bewusstsein, Empathie und Verständnis für alle ihrer Stimmen zu wecken.

Ganz nebenbei gewährt sie Einblicke in die Bonoboforschung und die unterschiedlichen Motive, die Menschen haben können, die das Verhalten von den Tieren erforschen, die dem Menschen am ähnlichsten sind.

Eine Gastrezension von Andrea Haid-Plescia