Shida Bazyar‘ Roman „Nachts ist es leise in Teheran“ stand 2017 im Mittelpunkt des Lesefestivals „Stuttgart liest ein Buch“, bei dem ich in der Planungsgruppe aktiv war. Die junge Autorin war damals auch einige Tage in Stuttgart und wir lernten sie als engagierte und sehr offene Autorin kennen. Klar, daß ich mich für ihren neuen Roman interessierte und ich danke dem Kiepenheuer & Witsch Verlag für das Rezensionsexemplar.
Dessen Lektüre hat mich angestrengt und beschäftigt. Denn Shida Bazyar thematisiert in diesem Text den Alltagsrassismus in einer Art und Weise, die mich einerseits beeindruckt, andererseits aber auch geärgert und getroffen hat. Immer wieder spießt sie Einstellungen und Verhaltensweisen unserer liberalen Gesellschaft geradezu auf und provozierte und mich damit, brachte mich gleichzeitig durch die Treffsicherheit ihrer Formulierungen aber auch immer wieder zum Schmunzeln.
Im Mittelpunkt des Romans stehen drei junge Frauen, die drei Kameradinnen, die sich seit ihrer Kindheit in einer Siedlung kennen. Wo ihre kulturellen Wurzeln liegen, verrät uns die Autorin nicht, lediglich daß eine von ihnen keine braune Haut hat. In diesen 3 Frauen finden sich die unterschiedlichen Arten, wie Menschen, die exotische (Nach)namen haben und vielleicht auch noch anders aussehen als die Biodeutschen, auf jeden Fall nicht hellhäutig, mit ihrer Lebenssituation in unserem Land umgehen:
Hani organisiert das Büro einer Marketingfirma, die sich „für die Rechte von Tieren einsetzte, in dem sie hippes Marketing für einen artgerechten Umgang vor deren Verwertungstod betrieb“. Sie passt sich vollkommen an und sorgt unauffällig dafür, daß der Laden läuft, ohne daß das Team und ihre Chefin das wirklich realisieren. Sie hat sich angepasst und hinterfragt eher selten ihre Lebenssituation.
Kasih, die uns erzählt von ihren Freundinnen hat Soziologie studiert, 83 erfolglose Bewerbungen geschrieben und ist Hartz 4 Empfängerin. Sie hatte einen Freund, Lukas, der sich von ihr getrennt hat und muss sich regelmäßig bei ihrer Betreuerin im Jobcenter melden, die ihr unpassende Stellen anbietet. Die Trennung von ihm ist für sie mehr als Liebeskummer, sie ist gleichzeitig der Verlust der Perspektive auf ein Leben ohne Benachteiligungen.
Saya ist diejenige auf die sie wartet. Sie kam, um gemeinsam mit Hani und Kaisih die Hochzeit einer Freundin aus Kindheitstagen zu feiern. Saya ist voller Zorn und Wut auf eine Gesellschaft, in der Nazis immer lauter werden können. Sie verfolgt den Beginn eines großen Prozesses gegen eine Neonaziorganisation, liest deren geleakte Chats und macht Kasih und Hani immer wieder aufmerksam auf den mehr oder weniger offen zu Tage tretenden Alltagsrassisimus, der sie alle daran hindert, ein ebenso unbefangenes Leben zu führen wie die Biodeutschen.
An den Anfang stellt Shida Bazyar einen Zeitungsartikel, in dem über einen Jahrhundertbrand berichtet wird, bei dem viele Menschen ums Leben kamen. Saya M., so lesen wir, hat sich radikalisiert und wenige Stunden vor dem tödlichen Brand, den sie vermutlich verursacht hat, unter dem Ruf „Allahu Akbar“ einen Mann attackiert. Der dann folgende Text ist der Versuch von Kasih eine Nacht auf ihre Freundin zu warten und sich zusammenzureißen.
Von Anfang an lässt uns Kasih im Unklaren darüber, was von dem, was sie erzählt wirklich passiert ist und was so hätte passiert sein können. In vielen kleinen Episoden erzählt sie von der gemeinsamen Kindheit, von den Alltagserlebnissen der Gegenwart, von Partys in der Pubertät, ersten Beziehungen und Sex. Sie erzählt davon, wie überlebensnotwendig die Freundschaft zwischen ihnen ist, die sie eine Kindheit, ein halbes Leben und mindestens zwei Diskriminierungskategorien teilen. Und sie erzählt von Saya, die in dem Trio die wütendste ist, diejenige, die die beiden anderen immer wieder darauf hinweist, wie ihre Situation von ihrer Herkunft dominiert und behindert wird, auf die scheinbar nebensächlichen, aber verletzenden Sprüche und Gesten. Sie stürzt aber Hani und Kasih damit auch immer wieder in Zweifel, warum sie selbst das nicht so stark erleben. In ihrem erzählen spricht sie uns Lesende auch immer wieder direkt an, fragt uns, ob wir eigentlich je etwas mitbekommen haben von dem, was sie beschreibt, von den Nazis, die Ausländer verfolgen, von Vorfällen in der Strassenbahn oder wie die Fragen wirken, die wir stellen, wenn wir einen Menschen mit anderer Hautfarbe oder einem exotischen Namen treffen. Sie stellt fest, daß wir sicher erst einmal in Wikipedia nachschlagen werden, von welchem Nazi-Prozess sie schreibt (bingo!), obwohl das ja eigentlich vollkommen egal ist. Sie traf bei mir mit manchen Sätzen und Anklagen immer wieder einen Nerv, ich fühlte mich angegriffen in meiner Lebensart und in meinen Einstellungen. Wenn sie mich spüren lassen wollte, wie sie und ihre Freundinnen sich oft fühlen, nämlich falsch, dann ist ihr das ebenso gelungen wie die Anregung, über diese Einstellungen und darüber, woher sie kommen, nachzudenken.
Rassismus, Frauenfeindlichkeit, aber auch die immer stärkere Macht, die die sozialen Medien in unserer Gesellschaft haben, das sind für mich die beherrschenden Themen dieses Romans. Saya begibt sich mit hoher Intensität in einschlägige Foren, in denen sie sich mit Nazis zofft und macht in gewisser Weise das Gleiche wie sie: So wie diese alles, was sich in unserer Gesellschaft gerade ändert auf die Geflüchteten und ihre vermeintlichen Ansprüche zurückführen, sieht sie in allem, was ihr und ihren Kameradinnen im Leben widerfährt, ihre Herkunft als Ursache – mit dem fundamentalen Unterschied, daß sich sehr vieles davon, wenn auch bestimmt nicht alles, wirklich darauf zurückführen lässt. Ob das jedoch die richtige Art und Weise ist, mit der Problematik umzugehen fragt sich nicht nur Kasih immer wieder, sondern auch ich mich.
Wie Shida Bazyar diese Themen behandelt, fand ich literarisch absolut gelungen: Sie spielt mit uns, ihren Leser*innen, denen sie immer wieder neue Möglichkeiten anbietet, wie sie ihre Erzählung verstehen können, sie wechselt die Zeitebenen oft abrupt, springt von einer Assoziation zur nächsten. Immer wieder entwirft sie Szenarien wie zum Beispiel eine Talkshow, an der die 3 Frauen teilnehmen und die natürlich nie stattgefunden hat, die aber genau so hätte stattfinden können. Auch ob das Warten auf Saya tatsächlich stattgefunden hat, ob sie im Gefängnis war und ob der Zeitungsartikel wirklich existiert – das blieb am Ende meiner eigenen Interpretation überlassen.
Fazit: Wenn Sie bis hierher gekommen sind, dann haben Sie lediglich über mein Leseerlebnis, aber auch meine Gefühle und Irritationen bei der Lektüre und meine Schlüsse daraus gelesen. Vielleicht hat Shida Bazyar aber etwas ganz anderes erreichen wollen und ich liege mit meiner Interpretation völlig daneben. Am besten finden Sie es selbst heraus und lesen dieses Buch! Sie werden es nicht bereuen!
In dieser Leseprobe können Sie sich einen Eindruck vom Stil des Buches machen.
Am 22.4.2021 stellte Shida Bazyar im Literaturhaus Stuttgart ihren Roman in einer gemeinsamen Veranstaltung mit dem SWR und dem Stuttgarter Schriftstellerhaus im Livestream vor. Das Gespräch wurde vom SWR 2 aufgezeichnet und Sie können es hier nachhören (Audio, 1:08 Std)
Und wenn Sie das Buch selber lesen möchten, können Sie es in den beiden Vaihinger Buchhandlungen buch+musik oder Vaihinger Buchladen bestellen oder herunterladen. Die Links führen dierekt in die jeweiligen Webshops. Beide Buchhandlungen bieten in der Coronapandemie je nach Lage auch click & collect und einen Lieferservice an.