Aus dem Bücherherbst 2012 empfehle ich Ursual Krechels Roman „Landgericht“, der 2012 auch den Preis der Leipziger Buchmesse bekam. Heutzutage muss in der Überfülle, fast könnte man von einer Buchpreis-Schwemme sprechen, ein Buchpreis nicht unbedingt ein Indiz für ein bemerkenswertes Buch sein. In diesem Fall ist er mehr als berechtigt, und zwar aus zwei Gründen: Einmal des Themas wegen, zum anderen hinsichtlich seiner Schreibweise.
Der Roman erzählt auf der Basis eines realen, gründlich recherchierten Falles die Geschichte eines jungen jüdischen Richters in Berlin, der 1933 von den Nazis aus dem Amt geworfen wird, nach Havanna emigriert, um mit dem Leben davonzukommen, von wo er 1948 nach Deutschland zurückkehrt, zunächst nach Lindau, später Mainz, und der seine Frau in bedrückenden Lebensumständen, die Ausreise war ihr nicht mehr gelungen, wiederfindet. Zwar kommt er wieder in Amt und Würden, die letzten Wiedergutmachungen werden ihm aber versagt. Er scheitert an den Paragraphen und deren spitzfindigen und engstirnigen Auslegungen durch die deutsche Justiz der Nachkriegszeit, obwohl er im Recht ist und, immer sachlich und höflich, bis zur Erschöpfung darum kämpft: Ein moderner Michael Kohlhaas, wie die Kritik zur Recht angemerkt hat. Es geht diesem Dr. Kronitzer letztendlich nicht um die berufliche Position, sondern um die Anerkennung seiner beruflichen Qualifikation und seine Würde und Ehre.
In den vielen Romanen, die sich mit jüdischen Schicksalen befassen, wurde dieses Thema so bisher noch nicht dargestellt. Er ist in einem kühlen, unsentimentalen, distanzierten, fast analytischen Stil geschrieben, wozu die eingeschobenen, wortwörtlich zitierten Nazi-Erlasse beitragen, die die Grundlagen für die Entschlüsse der Hauptperson und somit für den Handlungsablauf bilden. Der Roman verzichtet fast vollständig auf Dialoge, umkreist die Gedankenwelt der Hauptpersonen, ihre Gefühle, Ängste, Sorgen und Entscheidungen und tut dies mit einfühlsamer Zurückhaltung, die viele aktuellen Romane vermissen lassen.
In Claire, der Ehefrau der Hauptperson, ist der Autorin eine eindrucksvolle Frauengestalt gelungen: Nichtjüdin, Berlinerin, Protestantin, und schon in den dreissiger Jahren tatkräftige, vernunftbegabte Unternehmerin einer Werbefilm-Firma. Tief beeindruckend, mit einer Art seelischen Höflichkeit, beschreibt die Autorin das Wiederzusammenfinden des Ehepaars. Nicht weniger beeindruckend das herzzerreißende Schicksal der beiden Kinder, die mit Kindertransporten der Quäker nach England in Sicherheit gebracht werden, wo sie unter mehr oder weniger glücklichen Umständen Wurzeln schlagen, die ihnen aber nach 1945 / 48 einen herzlichen Kontakt zu ihren Eltern erschweren, fast verhindern und sie ihre eigenen Wege gehen lassen. Das Havanna-Exil, die exotische Fremdheit und der dortige Emigranten-Zirkel sind in plastischer Farbigkeit dargestellt. Und an genauer Schilderung unseres Nachkriegsdeutschlands, z.B. der Stadt Mainz, spart die Autorin nicht. Sie ist absolut zutreffend, wie Zeitzeugen bestätigen könnten.
Abgesehen vom Grundthema bietet dieser Roman Zeit- und Familiengeschichte jener Zeit in einem und beschreibt, wie das Schicksal ein Fremdsein auslöst, das nie mehr aufzuheben zu sein scheint. Trotz seiner etwas ungewöhnlichen, etwas sperrigen Erzählweise entfaltet der Roman einen Sog, der an Spannung grenzt. „Landgericht“ ist keine leichte Lektüre und man sollte sich genau überlegen, wem man dieses Buch schenkt. Es gehört aber zu den wirklich wichtigen Romanen und sollte auch von der jüngeren Generation gelesen werden, da er ein überzeugendes, richtiges Bild jener Jahre und eines jüdischen Schicksals zeichnet.
Denis Scheck hat Ursula Krechel in seiner Sendung “Druckfrisch” interviewt. Sie können das Gespräch hier anschauen (Video, ca 9 Min.)
Außerdem können Sie eine Lesung der Autorin hier anschauen (Video, ca 15 Min.)